Nach einer langen Bronze-Nacht mit wenig Schlaf rief Isabel Gose erstmal ihre Liebsten an. Am Telefon nahm sie die Glückwünsche ihrer Eltern und ihres kleinen Bruders zum größten Erfolg der bisherigen Karriere entgegen. «Das war sehr schön», sagte Gose und lächelte. «Ich hätte sie am liebsten hier gehabt und direkt in den Arm genommen, aber das holen wir dann nach.»
Während die Familie zu Hause den Olympia-Erfolg ausgiebig feiern konnte, versuchte Gose sich irgendwie zu erholen. Rund 15 Stunden nach Platz drei über 1500 Meter Freistil schwamm sie mit der Staffel, an diesem Freitag will sie über 800 Meter ins Finale einziehen. Ihre Olympia-Mission ist noch nicht zu Ende.
Goses Sieg gegen Dauer-Rivalin: «Ich habe sie im richtigen Rennen geschlagen»
Zum Beantworten der vielen Glückwunsch-Nachrichten bleibt da kaum Zeit. «Ich habe den Überblick verloren», sagte Gose. «Das übermannt einen dann doch ganz schön.» Die 15:41,16 Minuten auf dem Weg zu Bronze wirkten nach.
Für den Sieg im Privat-Duell um den Podestplatz mit ihrer Dauer-Gegnerin Simona Quadarella hätte sie sich keinen besseren Moment aussuchen können. «Wir hatten so viele Rennen nebeneinander, so viele Rennen habe ich gegen sie verloren», sagte die 22-Jährige zum Schwimm-Krimi mit der Italienerin.
«Ich war schon am Verzweifeln in den letzten Rennen, das geht natürlich auch an die Psyche.» Ausgerechnet im wichtigsten Wettkampf ihrer Karriere war Gose stärker, setzte sich in einem furiosen Schlussspurt durch. «Ich habe sie im richtigen Rennen geschlagen», sagte sie glücklich.
Tokio-Rennen als Vorbild
Auf dem Weg dorthin half auch ein besonderes Videostudium. Vor dem Finale schaute sich Gose mit Trainer Bernd Berkhahn noch einmal das Olympia-Bronzerennen von Sarah Wellbrock aus Tokio 2021 an. Wellbrock, die damals noch Köhler hieß, schlug damals ebenfalls unter anderem Quadarella. Berkhahn sagte zu Gose: «Das wird ein Déjà-vu für Simona. Du kriegst das hin.» Gose kriegte es hin und unterbot Wellbrocks deutschen Rekord aus jenem Rennen.
Oft hatte Gose bei großen internationalen Wettkämpfen ihr Ziel knapp verfehlt, oft war Quadarella einen Tick besser gewesen. Als Gose im Februar in Abwesenheit von Langstrecken-Dominatorin Katie Ledecky WM-Gold über 800 Meter verpasste und Silber holte, weinte sie bitterlich. Quadarella war um neun Hundertstelsekunden besser gewesen - eine Winzigkeit. Die Niederlagen ließen Gose zweifeln. Auch vor ihrem großen Bronzerennen. Statt der nächsten Enttäuschung wurde es die große sportliche Erlösung.
Bundestrainer: «Sie hat noch viele Reserven»
«Keinem gönnt man es mehr als Isa», sagte Lukas Märtens. Der Olympiasieger über 400 Meter Freistil weiß, wie viel harte Arbeit seine Ex-Freundin in die Mission Olympia-Edelmetall gesteckt hat. Die beiden trainieren zusammen, stehen sich auch nach dem Ende ihrer Beziehung sehr nah.
Auch Langstrecken-Bundestrainer Berkhahn hob Goses Trainingseinsatz hervor. «Das ist unglaublich und unwahrscheinlich, wie sie sich reinhängt», sagte er und betonte, dass Gose mit ihrer Entwicklung noch nicht am Ende sei: «Sie hat noch viele Reserven.»
Goses großer Schritt
Das Wissen, im entscheidenden Moment da sein zu können, in großen Rennen abzuliefern, hat für Gose mit Blick auf kommende Aufgaben unschätzbaren Wert. Der Druck wird nicht kleiner werden. «Dessen muss ich mir auch bewusst sein», sagte sie. «Aber ich glaube, dass ich heute mental einen ganz, ganz großen Schritt nach vorne gegangen bin.»
Bei den Weltmeisterschaften vor rund sechs Monaten hatte Gose zweimal Bronze und einmal Silber gewonnen. Edelmetall auf der größtmöglichen Bühne Olympia ist aber nochmal eine ganz andere Nummer. «Die internationalen Medaillen, die ich bis jetzt gesammelt habe, waren jedes Mal Medaillen, wo wirklich starke Mädels gefehlt haben», erklärte Gose. Nun war die versammelte Weltelite am Start - und Gose zeigte eindrucksvoll, dass sie dazu gehört.