Die britische Miniserie «Adolescence» über einen mörderischen Teenager entwickelt sich gerade zum Serienhit dieses Frühlings und ist global ein Gesprächsthema. Innerhalb der ersten zehn Tage (13. bis 23. März) wurden für die vierteilige Produktion aus dem Vereinigten Königreich (Laufzeit 3 Stunden, 50 Minuten) weltweit schon mehr als 66 Millionen Abrufe registriert.
Der «Guardian» bezeichnete «Adolescence» (Drehbuch: Jack Thorne und Stephen Graham) als diejenige Produktion seit Jahrzehnten, die Fernsehvollkommenheit am nächsten komme («the closest thing to TV perfection in decades»). Fragen und Antworten zu dem Hype.
Was bedeutet der Serientitel?
«Adolescence» (Aussprache: adlˈes(ə)ns) ist ein gehobener Begriff für «Jugend». Das Wort leitet sich vom lateinischen «adolescere» (heranwachsen) ab und meint die ganze Entwicklung von der späten Kindheit über die Pubertät bis hin zum vollen Erwachsensein. Einmal fällt der Satz in der Serie, es sei «echt irre, was in so einem kindlichen Gehirn vor sich geht» (im englischen Original: It's crazy, what your brain tells you to do when you're a kid).
Was für ein Genre ist das?
Weil es um ein Tötungsdelikt geht, denken manche, es handle sich um einen Krimi, doch Erwartungen an eine Whodunit-Handlung werden enttäuscht. Die Frage «Wer ist der Täter?» wird in Folge eins geklärt und ist nicht das, worum es eigentlich geht. Auch Coming-of-Age-Serie oder Familienmehrteiler griffe zu kurz. Vielmehr handelt es sich um eine Art Sozialdrama. Was macht die Gewalttat eines Jungen mit dem Umfeld? Hat jemand Schuld - wenn ja, wer?
Was zeigt die Serie?
Im Zentrum steht der 13-jährige Jamie Miller (Owen Cooper), der eines Abends mit einem Messer eine Mitschülerin ersticht. Als die Polizei am folgenden Morgen sein Kinderzimmer stürmt, stehen die Eltern (Stephen Graham und Christine Tremarco) hilflos und fassungslos dabei. Auch die ältere Schwester Lisa (Amélie Pease) wird in Mitleidenschaft gezogen. Der Mord an Katie wird genutzt, um die Psyche eines Jungen zu erkunden, der von Mobbing, sozialer Isolation und gefährlichen Denkmustern offensichtlich überfordert worden ist.
Warum ist die Serie so ein Gesprächsthema?
Ausgangspunkt für die Autoren war die steigende Zahl von Messerangriffen unter Jugendlichen im Vereinigten Königreich und die Rolle des Internets bei der Radikalisierung junger Menschen. Die verdichtete fiktionale Erzählung scheint einen Zeitgeist zu treffen. Das liegt wohl an der Kombination, dass ihr Thema von gesellschaftlicher Relevanz ist und auf eine radikale Art und Weise erzählt wird. Das Erlebnis «Adolescence» lässt einen nicht so schnell los.
Was macht «Adolescence» filmisch so besonders?
Die vier Echtzeit-Episoden von je rund einer Stunde wurden ohne Schnitt gedreht. Die One-Shot-Folgen (Regie: Philip Barantini) mit teils unglaublichen Kamerafahrten und -flügen machten präzise Planung und Koordinierung notwendig, die Zuschauer an vielen Stellen staunen lassen.
Welcher Take wurde bei welcher Folge genommen?
Netflix stellt Fans viel Material rund um die Serie zur Verfügung und verrät dabei unter anderem, dass bei Episode eins schon der zweite Durchlauf die veröffentlichte Fassung ist, bei Episode zwei ist es Take 13, bei der dritten Episode Take 11 und bei der finalen Folge der 16. Durchlauf.
Ist die Serienfamilie kaputt?
So einfach macht es sich «Adolescence» nicht. Hier gibt es liebevolle Eltern, die aber die Bedürfnisse ihres Sohnes nicht richtig erkennen. Sie stellen ihm unkontrolliert einen Computer ins Zimmer. Das Internet kann jedoch brutal sein. Eltern sollten wissen, was ihre Kinder tun. Das ist eine Botschaft.
Folge vier widmet sich intensiv dem Familiengefüge und den tief getroffenen Eltern. Am Telefon kündigt der inhaftierte Sohn an, auf schuldig plädieren zu wollen. Am Ende weint der Vater im Kinderzimmer und gesteht sich ein, dass Liebe und guter Wille nicht gereicht haben, um die Katastrophe zu verhindern.
Wer ist in der Serie hervorragend?
Als Entdeckung der Produktion darf zweifellos der 2009 geborene Owen Cooper gelten. In Folge drei, die als erstes gedreht wurde, legt er eine äußerst beeindruckende Performance hin - als eine Art Monster mit Milchgesicht.
In der Jugendstrafanstalt befragt ihn die Psychologin Briony Ariston (Erin Doherty) zum Verständnis seiner Tat. Wie Cooper dann einerseits charmant plaudert, die erwachsene Frau aber auch mit Lügen beeindrucken will, schließlich die Beherrschung verliert und die Gutachterin einzuschüchtern versucht, am Ende aber auch wieder um ihre Zuneigung bettelt, ist: erschütternd.
Was ist der eigentliche Kern der Serie?
«Adolescence» versucht zu zeigen, dass im Internet-Zeitalter nicht wenige Jungs mangelndes Selbstbewusstsein mit aggressiver Maskulinität kompensieren. Diese toxische Männlichkeit kann viel Unheil anrichten.
Wie kommt die Polizei in der Serie weg?
Der ermittelnde Polizist Luke Bascombe (Ashley Walters) wird von seinem eigenen Teenager-Sohn Adam (Amari Bacchus) darüber aufgeklärt, dass er die ganze Dimension gar nicht verstehe. Versetzt er sich genug in die junge Generation? Weiß er, was welche Emojis bedeuten? Kennt er die von vielen für wahr gehaltene, antifeministische sogenannte Manosphere-Ideologie mit Aussagen wie «80 Prozent der Frauen fühlen sich zu 20 Prozent der Männer hingezogen - Du musst sie überlisten, sonst kommst du nie an sie ran»?
Wie politisch ist dieser Stoff?
Der britische Premierminister Keir Starmer äußerte sich schon zu der Serie und ihrem Kernthema. Viele Eltern und Menschen, die mit jungen Leuten arbeiteten, sähen, dass es ein Problem mit Jungs und jungen Männern gebe, das man angehen müsse. «Ich persönlich nehme das sehr ernst.» Starmer (62) sagte, er schaue die Serie mit seinem 16-jährigen Sohn und seiner 14-jährigen Tochter. Die Gewalt junger Männer - befördert durch das, was sie online aufsaugten - sei ein reales Problem. «Wir können nicht einfach mit den Schultern zucken.» In jüngster Vergangenheit warnte auch der frühere englische Fußballnationaltrainer Gareth Southgate, viele Jungs fühlten sich isoliert und zögen sich ins Internet zurück. Dort seien sie toxischen Influencern ausgesetzt.
Was wird mit «Adolescence» passieren?
Die faszinierende Serie dürfte dieses Jahr einige Preise abräumen. Es wäre eine Überraschung, wenn sie bei den Emmy Awards nicht die wichtige Kategorie «Miniserie» gewinnen würde - wie letztes Mal der britische Psychothriller-Siebenteiler «Rentierbaby» (Originaltitel: Baby Reindeer).