Seinen mächtigen Schädel setzt das einstige Kopfballungeheuer nicht mehr ein, aber vor den Trainingseinheiten der deutschen Fußballerinnen schießt Horst Hrubesch gerne ein paar Mal aufs Tor. Wenn der Bundestrainer die anvisierte Latte trifft, reißt er jubelnd seine Arme hoch. Über seine Stürmerinnen sagt der 73-Jährige fast nach jedem Spiel sinngemäß und seufzend das: «Sie hätten mehr Tore machen können.» Den bisherigen Chancen-Wucher können sich Lea Schüller, die vor dem olympischen Viertelfinale angeschlagen ist, Klara Bühl und Jule Brand gegen Kanada nicht leisten.
Die 26-Jährige vom FC Bayern war beim 4:1 gegen Sambia unglücklich gefallen. «Es ist nichts Schlimmes, aber mir tut die Schulter gerade einfach weh», sagte sie. Am Tag danach trug Schüller den Arm in einer Schlinge, nach DFB-Angaben eine Vorsichtsmaßnahme. «Sie hat eine Prellung in der Schulter. Das haben wir untersucht, alles in Ordnung. Sie wird mittrainieren», erklärte Hrubesch vor der abschließenden Übungseinheit.
Auf die Frage, ob die dreifache Turniertorschützin am Samstag (19.00 Uhr/ZDF und Eurosport) auch spielen werde, meinte der Trainer: «Das werden wir dann morgen sehen.» Bei einem Ausfall könnte Schüller im Zentrum durch die bisher auf der Sechs agierende Kapitänin Alexandra Popp ersetzt werden.
Hrubesch sieht eine «gute Chance»
«Es ist eine ziemlich kompakte Mannschaft, die körperlich gut ist, die fußballerisch auch ihre Mittel hat. Es ist sicher kein leichtes Los, aber ich denke, auch sie haben ihre Macken - genauso wie wir», sagte Hrubesch über die Kanadierinnen vor dem ersten K.o.-Spiel am Samstag (19.00 Uhr/ZDF und Eurosport) in Marseille. «Ich denke, wir haben eine gute Chance.»
Ein Jahr nach dem WM-Debakel in Australien und eine knappe Woche nach der 1:4-Lehrstunde gegen die USA stellt sich mal wieder die Frage: Wo steht das Nationalteam? Ohne Zweifel hat Hrubesch die DFB-Auswahl seit seinem Amtsantritt im Oktober vorangebracht. Ob es in Frankreich zu der erhofften Medaillen oder gar zum erträumten Finaleinzug reicht, ist eine andere Frage. Im Halbfinale wäre erneut die USA oder Japan der Gegner.
Bei Klara Bühl platzte der Knoten gegen Sambia
Die frühere Europameisterin Inka Grings sieht das Hrubesch-Team gegen Kanada eher als Außenseiter. «Deutschland wird einen verdammt guten Tag brauchen, um weiterzukommen», schrieb die 45-Jährige in einer Kolumne für t-online. «Das DFB-Team ist nicht dort, wo es hinwill. Nämlich zurück in die Weltspitze.»
Viel wird von der Angriffsreihe abhängen. «Wir haben vorn noch mehr Potenzial für Tore», sagte Hrubesch nach dem Sambia-Spiel. Schüller ist in starker Form. Die Mittelstürmerin profitierte in den vergangenen Monaten ebenso wie ihre Nebenfrauen Klara Bühl und Jule Brand von der Erfahrung und den klaren Anweisungen des Bundestrainers.
So erklärte Schüller: «Ich habe mich einfach darin verbessert, die Bälle vorn festzumachen, was nie meine Stärke war.» Mittlerweile hat sie 45 Tore in 65 Länderspielen vorzuweisen. Hrubeschs einstige Kopfballtore kennt sie natürlich aus Youtube-Videos: «Aber es ist nicht so, dass ich ständig Tipps für Kopfbälle kriege.»
Ihre Clubkollegin Klara Bühl, für die Fans die «Nationalspielerin des Jahres 2023», brauchte etwas, um ins Turnier zu kommen. «Noch recht unauffällig, in den Dienst der Mannschaft gestellt.» So beschrieb die 23-Jährige selbst ihre ersten beiden Spiele. Gegen Sambia aber überzeugte die Linksaußen mit einem Tor und einem Assist und wirkte danach wie befreit.
Hoffnung Jule Brand: mit 21 bereits 50. Länderspiele
Rechtsaußen Brand wiederum glänzte beim 4:0 gegen Australien, wirkte aber gegen Sambia etwas platt. Es war bereits das 50. Länderspiel des 21 Jahre alten Toptalents vom VfL Wolfsburg, das sich unter Hrubesch immer weiter verbessert zeigt.
«Offensiv wünsche ich mir noch viel mehr Durchschlagskraft. Gegen ein Top-Team wie die USA hat Deutschland kaum Eins-gegen-Eins-Duelle gewonnen», kritisierte derweil Ex-Stürmerin Grings, die zuletzt die Auswahl der Schweiz trainierte. «Da hat man gesehen, dass diese Mannschaft auf internationalem Top-Niveau limitiert ist.»
Gegen Kanada treffen die deutschen Stürmerinnen auf eine Defensive, die bisher nur zwei Treffer zugelassen hat. Mit drei Siegen erreichte das Nationalteam trotz ihres Sechs-Punkte-Abzugs wegen des Drohnen-Eklats das Viertelfinale. «Die haben sicherlich eine Situation, in der sie sehr eng zusammenrücken und es auch vielleicht allen zeigen wollen», sagte DFB-Sportdirektorin Nia Künzer, wollte das Spionage-Thema aber nicht weiter kommentieren.