«Guten Morgen, hier ist Onkel Dagobert», sagt der Anrufer mit fisteliger Stimme. «Es tut mir leid, dass ich ihre Firma erpressen musste, aber es war nicht anders möglich», ergänzt er und hört sich dabei gehetzt an.
Drei Tage nach dieser Aufnahme, die heute in der Polizeihistorischen Sammlung in Berlin anzuhören ist, wird der Mann an einer Berliner Telefonzelle gestellt, als er neue Anweisungen für die Übergabe von mehr als 1,4 Millionen D-Mark stellen will. Rund zwei Jahre hat Kaufhaus-Erpresser «Dagobert» Polizisten in Berlin und Hamburg mit seinen ausgeklügelten Tricks genarrt. Am 22. April 1994 knallen bei der Polizei die Sektkorken - und auch der Gejagte ist letztlich erleichtert.
«Dass es sich über zwei Jahre hinzieht, habe ich selbst nicht gedacht», sagt Arno Funke rund 30 Jahre nach seiner Festnahme. «Die Luft war raus. Ich wollte auch nicht mehr. Aber ich hatte kein Geld», schildert der inzwischen 74-Jährige. Zuletzt habe er damals darüber nachgedacht, jemanden zu beauftragen, ihn zu verraten - und sich dann mit dieser Person die auf ihn ausgesetzte Geldsumme zu teilen.
Mit quietschenden Reifen zur Telefonzelle
Letztlich gelang es aber der Polizei selbst, einen der spektakulärsten Kriminalfälle Deutschlands aufzulösen. Eine Genugtuung. Denn nach vielen gescheiterten Geldübergaben waren die Beamten Häme ausgesetzt und der Erpresser zunehmend zum «Volkshelden» geworden. So gaben etwa 1993 bei einer ARD-Umfrage 61 Prozent der Befragten an, den gewitzten Bastler sympathisch zu finden.
Ein Grund war wohl die Raffinesse seiner technischen Konstruktionen, mit denen er die Polizei bei versuchten Geldübergaben immer wieder in die Irre führte. «Dagobert» nannten Polizei und Medien ihn, weil er mit «Onkel Dagobert grüßt seine Neffen» in Zeitungsannoncen das Signal für Übergaben geben wollte.
«Man ist mit Dagobert im Kopf eingeschlafen und mit Dagobert im Kopf aufgewacht», berichtet der pensionierte Polizist Martin Textor. Der heute 79-Jährige war damals als Abteilungsleiter im Landeskriminalamt (LKA) für den monatelangen und aufwendigen Polizeieinsatz verantwortlich, bei dem beispielsweise rund 3000 Polizisten Telefonzellen in West-Berlin beobachteten. Letztlich sei es der «kriminalistische Spürsinn» zweier junger Polizisten gewesen, der zu Funke führte, so Textor.
Als sich die Ermittler sicher waren, dass der gelernte Schilder- und Lichtreklamehersteller der Gesuchte ist, observierten sie ihn. Am 22. April 1994 vormittags um kurz vor halb zehn ist es so weit: Mit quietschenden Reifen fahren Zivilautos in der Hagedornstraße in Berlin-Treptow vor, Beamte springen aus zwei Fahrzeugen und schreien: «Halt, stehen bleiben, Polizei».
Volksfest im Hof der Polizei
Zeugen berichten später, Funke habe gelächelt. Er beschreibt den Moment heute so: «Da macht man dicht. Das lässt man über sich ergehen. Das ist wie beim Zahnarzt: Mal sehen, wie schlimm es wird.» Der damalige Einsatzleiter Textor berichtet mit glänzenden Augen von dem erlösenden Anruf, von der Gratulation des Polizeipräsidenten - und den Ereignissen auf dem Hof vor dem Polizeigebäude. «Da kamen 200 Leute zurück vom Einsatz. Die Sektpullen standen auf dem Dach. Es war Volksfest.»
Gefeiert wurde vor allem das Ende eines rund zweijährigen beispiellosen Katz-und Maus-Spiels zwischen Erpresser und Polizei. Tatsächlich wurde aber eine etwa sechs Jahre andauernde Verbrecherjagd beendet. Denn im Mai 1988 war es Funke gelungen, vom berühmten Berliner Luxuskaufhaus KaDeWe 500.000 D-Mark zu erpressen, ohne gefasst zu werden. Doch das Geld war schnell ausgegeben - und der Berliner versuchte, vom Karstadt-Konzern weitere 1,4 Millionen Mark zu erpressen. Auf diese Weise kam es zu einer engen Zusammenarbeit der Polizei in Berlin und Hamburg. Funke versuchte verschiedene Kaufhäuser zu erpressen, unter anderem auch in Bremen und Hannover.
Zu neun Jahren Haft verurteilt
Wegen der vollendeten Erpressung des Berliner Kaufhauses KaDeWe 1988, der versuchten Erpressung des Karstadt-Konzerns von 1992 bis 1994 und sechs damit verbundenen Sprengstoffanschlägen wurde Funke 1995 erstmals verurteilt. In einem zweiten Prozess wurde 1996 die Strafe auf neun Jahre festgesetzt. Das Gericht bescheinigte ihm eine hirnorganisch bedingte Depression und verminderte Schuldfähigkeit. Er wurde jedoch verpflichtet, 5 Millionen D-Mark (rund 2,5 Millionen Euro) Schadenersatz zu zahlen. Im Sommer 2000 kam Funke vorzeitig frei.
«Die Art, wie er vorgegangen ist, war genial», sagt Ex-Polizist Textor mit Blick auf die technischen Fähigkeiten, die Kreativität und die taktische Vorsicht Funkes. «Er ist ein Tüftler und handwerklich sehr begabt.» Zugleich betont er: «Das hat nichts mit Bewunderung zu tun. Er war ein Verbrecher. Dann ein verurteilter Verbrecher. Nun ist er ein Vorbestrafter.» Ab und an treffen sich der Pensionär und der Ex-Erpresser - meist, wenn es einen Jahrestag gibt, wie nun 30 Jahre nach der Festnahme.
Freundschaftlicher Kontakt zwischen Polizist und Täter
Vermittelt wurde der Kontakt einst über die Medien. Hintergrund war ein Kommentar des Polizeibeamten anlässlich der Explosion einer Rohrbombe in einem Berliner Kaufhaus mitten im Weihnachtsgeschäft am 6. Dezember 1993. «Jetzt hat 'Dagobert' für mich die Unschuld verloren. Jetzt nimmt er in Kauf, dass Menschen zu Schaden kommen», so Textor damals. «Meine Aussage muss ihn sehr getroffen haben», schildert der 79-Jährige heute. Funke habe einen Journalisten gebeten, ein Gespräch zu vermitteln. So kam es zur persönlichen Begegnung.
«Ich habe immer versucht, das Restrisiko so gering zu möglich zu halten», betont Funke auch im Interview der Deutschen Presse-Agentur. Er sei selbst vor Ort gewesen, habe die Situation beobachtet. In der 2022 in der ARD ausgestrahlten TV-Dokumentation «Jagd auf Dagobert - Vom Verbrecher zum Volkshelden» von Tim Evers schilderte jedoch ein damaliger Angestellter des Kaufhaus-Konzerns die Angst der Beschäftigten. So erinnerte etwa in den Kaufhäusern eine verschlüsselte Durchsage die Angestellten jeden Abend kurz vor Ladenschluss daran, nach zurückgelassenen Taschen und Koffern zu sehen.
Nach der Haft TV-Auftritte
Ex-Polizist Textor ist überzeugt, dass Funke nicht mehr straffällig wird. Er habe ein geordnetes Leben. «Er ist ein wirklich ungewöhnlicher Mensch.» Der eloquente Ur-Berliner selbst geht offen mit seiner Vergangenheit um - und nutzt die dadurch entstandene Prominenz auch.
Noch in der Haft kam die Anfrage des «Eulenspiegel», ob Funke für das Satiremagazin zeichnen wolle. Er hat eine Autobiografie veröffentlicht, gehörte 2013 zu den Kandidaten im RTL-«Dschungelcamp», stand in Berlin in der Show «Erbrechen lohnt sich nicht» auf der Bühne. Und seine Erfahrungen zum Thema Resozialisierung hat er beispielsweise als Referent an der juristischen Fakultät in Münster weitergegeben.
«Mein Leben hat durch die Taten eine völlig andere Richtung bekommen. Ich habe viele interessante Menschen kennengelernt», sagt Funke. Zugleich räumt er ein: «Es wäre schön, wenn man eine bessere Geschichte hätte.»