Bald zehn Monate wütet der Gaza-Krieg ohne Aussicht auf Entspannung - mit der Tötung einer der Schlüsselfiguren der islamistischen Hamas nimmt der Konflikt nun eine weitere dramatische Fortsetzung. Hamas-Auslandschef Ismail Hanija wurde nach Angaben der Terrororganisation bei einem Angriff Israels getötet, während er die iranische Hauptstadt Teheran besuchte. Nur Stunden zuvor tötete Israels Armee nach eigenen Angaben auch den ranghöchsten Militärkommandeur der Hisbollah im Libanon, Fuad Schukr. Zwei der einflussreichsten Männer in deren Kampf gegen Israel sind demnach tot.
Die Hisbollah im Libanon und die palästinensische Hamas sind wichtige Verbündete, beide zudem unterstützt vom Iran. Sie zählen zu Teherans selbst ernannter «Achse des Widerstands» im Kampf gegen Israel. Deshalb steigt nach den Angriffen in Beirut und Teheran jetzt die Gefahr eines noch größeren, regionalen Kriegs. Als Teil der «Achse» könnten sich daran auch die Milizen im Jemen, im Irak und in Syrien beteiligen. Ein koordinierter Angriff dieser Lager könnte auch Israels Raketenabwehr überwältigen.
Iran sieht Vergeltung als seine Pflicht
Der oberste Führer des Irans, Ajatollah Ali Chamenei, kündigte umgehend Rache für Hanijas Tod an. Teheran betrachte die Vergeltung der Tat «als unsere Pflicht», wurde Chamenei auf seiner offiziellen Website zitiert. Zumal Hanija «geschätzter Gast in unserem Haus» gewesen sei.
Chamenei hatte sich noch am Dienstag mit Hanija getroffen, der für die Vereidigungszeremonie des neuen Präsidenten Massud Peseschkian angereist war. Der Hamas-Chef, gegen den der Chefankläger vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl beantragt hatte, dürfte sich sehr beschützt gefühlt haben. Doch um 2.00 Uhr morgens Ortszeit (0.30 Uhr MESZ) wurde Hanija dann nach iranischen Angaben in einem angeblich «sicheren Haus» im Norden Teherans «von einem Gegenstand aus der Luft» tödlich getroffen. Die genauen Umstände seines Todes sind noch unklar.
Regionaler Krieg? Angriff auf Tel Aviv denkbar
Steigt der Iran nach dieser Provokation noch stärker und sichtbarer in einen regionalen Konflikt ein? Der tödliche Anschlag auf seinen Staatsgast ist auf jeden Fall eine schwere Demütigung. Der Vorfall kam jedoch für den Iran zu einem miserablen Zeitpunkt. Peseschkian wurde am Dienstag vereidigt, Vertreter aus über 80 Staaten waren angereist und Teheran wollte sich von seiner besten Seite zeigen. Doch es kam alles anders.
Außerdem steckt der Iran in der schlimmsten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Peseschkian plant deswegen eigentlich auch bessere Beziehungen mit dem Westen. In dieser kritischen Phase einen militärischen Konflikt mit Israel zu beginnen, wäre für Peseschkian sowohl wirtschaftlich als auch politisch ein Desaster - und könnte zu einem finanziellen Kollaps im Land führen. Für Peseschkian sind es in jedem Fall bemerkenswerte erste Tage im Amt.
Für die Hisbollah wäre ihrerseits ein Angriff auf Tel Aviv denkbar. Ihr Chef Hassan Nasrallah hat dies mehrfach angedroht für den Fall einer Attacke, wie nun, auf Beirut. Zugleich hat die Hisbollah den Tod ihres Kommandeurs Fuad Schukr zunächst nicht bestätigt, wie auch Israel sich zunächst nicht zur Tötung Hanijas geäußert hat. Vielleicht wollen beide Seiten dem Gegner etwas Raum zum Manövrieren lassen.
Was bezweckt Israel?
Israel hatte dem Iran immer wieder vorgeworfen, es setze im Kampf gegen den jüdischen Staat nur seine Helfershelfer in der Region ein und müsse dabei selbst kaum einen Preis zahlen. Der israelischen Regierung unter Benjamin Netanjahu wird wiederum von Kritikern im eigenen Land immer wieder vorgehalten, sie reagiere vor allem auf Angriffe der «Achse des Widerstands» und übernehme kaum selbst die Initiative.
Die Attacken in Beirut und Teheran werden als Versuch Israels gesehen, stärker in die Offensive zu gehen und den Krieg in das Gebiet des Feindes zu verlegen. Israel versucht offenbar auch, seine Abschreckungsfähigkeit, die seit dem verheerenden Überraschungsangriff der Hamas auf das israelische Grenzgebiet am 7. Oktober vergangenen Jahres als massiv beschädigt galt, wieder herzustellen.
Hoffnung auf rasche Gaza-Waffenruhe rückt in die Ferne
Die tödlichen Schläge in Beirut und Teheran stellen umfangreiche geheimdienstliche und militärische Fähigkeiten Israels unter Beweis. Sie können als Botschaft an den Iran und seine Verbündeten gewertet werden, dass niemand gefeit ist. Israel hatte nach dem 7. Oktober angekündigt, es werde die gesamte Hamas-Führungsriege ausschalten. Sollte sich der Tod des Hamas-Führers Mohammed Deif bewahrheiten, wäre Jihia al-Sinwar das letzte lebende ranghohe Führungsmitglied der Hamas, die 2007 gewaltsam die alleinige Macht im Gazastreifen an sich gerissen hatte. Es wird vermutet, dass er sich seit Kriegsbeginn im Tunnelnetz unter dem Küstenstreifen versteckt hält.
Hamas-Chef Hanija galt als wichtige Kontaktperson bei den indirekten Verhandlungen über eine Waffenruhe im Gaza-Krieg und eine Freilassung der mehr als 100 verbliebenen israelischen Geiseln im Gegenzug für palästinensische Häftlinge. Ein Kommentator der Zeitung «Haaretz» schrieb, Hanijas Tod werde sich negativ auf die Gespräche auswirken, die ohnehin stockten, nachdem der Netanjahu seine Positionen verhärtet hatte.
Regionaler Krieg könnte die USA kurz vor Schicksalswahl hereinziehen
Ein regionaler Krieg könnte Israels wichtigsten Verbündeten, die USA, dazu zwingen, sich kurz vor der US-Wahl noch stärker in einen Waffengang mit ungewissem Ausgang einzumischen. Möglicherweise erhofft Israel sich in einem solchen Szenario eine deutliche Schwächung seiner Feinde in der ganzen Region mit Hilfe des starken Verbündeten. US-Außenminister Antony Blinken betonte, die USA hätten mit dem Anschlag auf Hanija nichts zu tun und seien vorher auch nicht informiert worden.
Kurz vor den Vorfällen in Beirut und Teheran hatte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin die Frage eines Journalisten, ob Israel bei einem breiten Krieg mit der Hisbollah mit der Hilfe der Amerikaner rechnen könne, noch mit der Aussage beantwortet, im Angriffsfall stehe man dem Partner bei. «Wenn Israel angegriffen wird, ja, dann werden wir Israel helfen, sich zu verteidigen», sagte Austin. Man strebe aber nach einer diplomatischen Lösung.
Mit Luftangriffen im Jemen, Irak und Syrien bemühen sich die USA schon seit Monaten, neue Attacken auch auf ihre Stützpunkte zu verhindern, ohne ganz in einen neuen Krieg verwickelt zu werden. US-Präsident Joe Biden wirkt unterdessen schon halb aus dem Amt, die Konkurrenten um seine Nachfolge laufen sich noch im Wahlkampf warm.
Weil es keine klare Führung gibt, sei der Nahe Osten in einem gefährlichen Zwischenzustand gefangen, schrieb das Magazin «Foreign Affairs» im März über die Lage in der Region. «Niemand hat das Sagen.» So schaukeln sich die Lager gegenseitig immer weiter hoch.