Die zehnjährige Aurore (Mélody Gualteros) lächelt nie. Finster blickt sie in die Welt. Auch als sie ein Kind aus der Nachbarschaft tötet. Sie tut es nicht aus Lust oder Freude am Töten. Zu Hause war mal wieder nichts im Kühlschrank. Aurore hatte Hunger und ist von ihrer alleinerziehenden Mutter Gewalt und Sprachlosigkeit gewohnt.
Der kleine Paulo hatte Kekse, die er nicht mit Aurore teilen wollte. Das wird für das Zufallsopfer zum Todesurteil: Aurore würgt den Schwächeren ohne jeden Skrupel oder Mitgefühl. Sie ist überrascht, als der Vierjährige irgendwann nicht mehr zuckt. Sie wirft den kleinen Leib ins Hafenbecken.
Ein völlig sinnloses, entsetzliches Verbrechen, mitten in Frankreich, in einer schäbigen Neubausiedlung in der Camargue. Aurores bester Freund Chris (Ernest Cereijo) schaut von Weitem beim Tod des Vierjährigen zu, schreitet beim Übergriff nicht ein. Auch die zweijährige Schwester des Opfers wird hilflos Zeugin, sie wird zeitlebens traumatisiert bleiben. Binnen weniger Sekunden sind mehrere Leben zerstört. Aurore gerät erst Tage später in Verdacht. Sie geht für Jahre in Haft - doch die Gesellschaft ist danach noch lange nicht fertig mit ihr.
Der französische Dreiteiler «Ein Engel verschwindet» läuft am Donnerstag ab 22.25 Uhr auf Arte. Regisseurin Laetitia Masson («Zu verkaufen») greift in irritierender Hochglanzoptik ein Tabuthema auf: ein Tötungsdelikt unter kleinen Kindern. Die Mini-Serie wirft im gleichen Zug die Frage auf, wie viel Verantwortung die Umwelt bei so einer verstörenden Tat hat.
Im Mittelpunkt steht letztlich allerdings der Umgang der Gesellschaft mit Schuld und Sühne. Denn Aurore (als Erwachsene: Elodie Bouchez) wird auch nach Verbüßen der Strafe keine Ruhe mehr finden. 20 Jahre später lebt sie unter einem neuen Namen in einer kleinen Wohnung in Marseille. Sie arbeitet als Köchin in einem Restaurant und widmet ihre Freizeit ganz ihrer Tochter Rose, in der sie eine neue Chance sieht. Doch eines Tages wird Aurore unbemerkt von einem Journalisten fotografiert, als sie ihr Kind von der Schule abholt.
Aurores Bild erscheint in der lokalen Zeitung und der Verlust ihrer Anonymität wirft ihr neues Leben schlagartig über den Haufen, sie verliert die Arbeit, ihre Tochter die Freunde. Doch nicht nur für die Täterin von einst weckt der Artikel böse Erinnerungen: Maya, Paulos kleine Schwester, macht sich nach vielen Jahren auf die Spur der Frau, die ihren Bruder auf dem Gewissen hat. Maya plant kaltblütig ihre Rache für die Tat an Paulo. Zu den wenigen Menschen, die in der Öffentlichkeit noch zu Aurore halten, gehört ihre Bewährungshelferin: «Alle haben Angst vor ihr», sagt sie über ihren Schützling. «Ich habe Angst um sie.»