Ein menschenleerer Hangar. Nur Alexia (Agathe Rousselle) ist nach dem Autosalon zurückgekehrt. Splitternackt geht sie zu einem bunten Cadillac aus den 1980er-Jahren. Und besteigt ihn. In jeglichem Sinne, den ein Wörterbuch so kennt. Nur kurze Schnitte deuten dem Zuschauer an, was im Inneren des ekstatisch wippenden Oldtimers geschieht, in dem sich Alexia zwischen Gurten windet.
Der französische Film «Titane» bricht mit Sehgewohnheiten. Regisseurin Julia Ducournau hat dafür 2021 beim Filmfest in Cannes die Goldene Palme für den besten Film gewonnen. Damit schrieb sie Festivalgeschichte: Sie war die erst zweite Frau, die den Hauptpreis einheimste. Sogar die erste Frau, die ihn allein bekam. Arte zeigt «Titane» am Mittwoch um 22.15 Uhr.
Worum geht es? Alexia trägt seit einem schweren Autounfall in ihrer Kindheit eine Titanplatte im Kopf. Sie hat eine Obsession für Autos entwickelt. Als Tänzerin auf Automessen reibt sie - vor zumeist männlichen Autofans - ihren Körper leidenschaftlich an Motorhauben und Kühlern.
Als ein Fan sie abends auf dem Parkplatz bedrängt und sich nicht abschütteln lässt, tötet Alexia den Stalker im Affekt mit ihrer riesigen Haarnadel. Zu Hause bei den Eltern muss sie feststellen, dass die Polizei schon auf der Fährte ihres Verbrechens ist. Statt sich zu stellen, verwischt sie ihre Spuren mit immer neuen Morden.
Auf der Flucht, am Flughafen, auf den Bildschirmen im Terminal, sieht sie die Fahndungsbilder von sich selbst. Aber sie sieht auch ein Plakat: Ein Junge, Adrien, wird vermisst, und das seit vielen Jahren. Er müsste jetzt das Alter von Alexia haben.
Alexia bricht sich die Nase, rasiert sich die Haare und nimmt die Identität des schlaksigen, stummen Jungen an. Bei einer Gegenüberstellung wird sie von Vincent (Vincent Lindon), Adriens Vater, als sein verlorener Sohn erkannt. Er ist ein Feuerwehrhauptmann, dessen Leben zerstört ist. Er nimmt Alexia bei sich auf.
Alexia schnürt sich ihre Brüste ab, verbirgt ihr Geschlecht unter einem notdürftigen Korsett und kaschiert eine beginnende Schwangerschaft. Als Vater kommt einzig und allein ihr letzter sexueller Kontakt infrage: das riesige Auto.
«Die gewaltige Schlagkraft, die in den blutigen, betörenden und immer ekstatischen Filmmomenten liegt, zieht das Publikum in den Bann. Rauschhaft und absurd – der Film begeistert und verliert dabei nie seine Glaubwürdigkeit», wirbt Arte für den Film.
«Mein erster Input war, dass ich über Liebe sprechen wollte», sagte Regisseurin Ducournau 2021 in einem dpa-Interview. «Das war eine große Herausforderung für mich, denn ich möchte dieses Gefühl, das alles transzendiert, nicht in Worte fassen. Deshalb gibt es in meinen Filmen auch so wenige Worte. Deshalb konzentriere ich mich auch sehr auf die Körper meiner Charaktere und meine Schauspieler. Die zweite Sache ist, dass ich jahrelang diesen wiederkehrenden Alptraum hatte, dass ich Teile eines Automotors zur Welt bringe. Dieser Alptraum hat mich traumatisiert, aber gleichzeitig dachte ich "Wow, was für ein verrücktes Bild, da muss ich wirklich was draus machen".»