Laurie Anderson als Musikerin zu bezeichnen, wird ihr nicht gerecht. Nicht annähernd. Denn die als Laura Philips Anderson 1947 in einer Kleinstadt in Illinois geborene Künstlerin ist eine würdige Vertreterin der raren Spezies «Multitalent»: Sie singt, spielt seltsame, selbst entworfene Geigen, sie sorgt mit ihren besonderen Performances für ein Raunen im Kulturbetrieb und sie ist in der Literaturszene genauso gut beheimatet wie in der Filmszene. Darüber hinaus ist die in den unterschiedlichsten Disziplinen mit Auszeichnungen überhäufte Künstlerin eine begnadete Geschichtenerzählerin.
Genau das beweist sie jetzt auf ihrem neuen Album «Amelia», das heute veröffentlicht wird. In dem mit 22 Spoken-Word-Tracks ausgestatteten Konzept-Album erzählt Anderson die Geschichte des letzten Flugs der amerikanischen Flug-Pionierin Amelia Earhart. 1937, fünf Jahre nach Earharts spektakulärem Rekordflug über den Atlantik, wollte sie eine weitere Bestleistung aufstellen: als erster Mensch die Erde am Äquator umrunden. Am 21. Mai 1937 startete sie für ihre Pionierleistung, sechs Wochen später hob sie von Neuguinea zu ihrer letzten Etappe ab – und gilt seitdem als verschollen.
Keine leichte Kost
Die Tragik dieses Flugs ohne Wiederkehr hat Anderson in knapp zwei Dutzend Miniaturen eingefangen: Klang-Collagen, soundtrack-artige Sequenzen, Melodien und Sound-Schnipsel, in denen Anderson versucht, sich ganz und gar in die Gefühls- und Gedankenwelt der weiblichen Pilotin bei ihrem Flug vor 87 Jahren hineinzuversetzen. Leichte Kost ist das nicht. Weder musikalisch noch inhaltlich. Die spärlich arrangierten Titel atmen eine düstere Vorahnung aus, die selbst die zuversichtlichen, mit annähernd konventionellen Melodiebögen ausgestatteten Titel wie «Brasil», «India And On Down To Australia» und «Road To Mandalay» infiltriert.
Am eindringlichsten fällt ihre Nachzeichnung des unvollendeten Rekordfluges in dem Titel «Broken Chronometers» aus – ein innerer Monolog Earharts, in dem sie ihre schlechte körperliche Verfassung und ihre noch schlechteren Chancen auf den Landeanflug thematisiert. Den negativen Gedanken möchte sie aber stets mit einem energischen «Stop!» Einhalt gebieten.
«Verschollen, vermutlich tot»
So oder so ähnlich könnte es tatsächlich gewesen sein, als Earthart am 2. Juli um 8.40 Uhr –längst über dem Pazifik umherirrend – ihren letzten Funkspruch absetzte. Kurz danach startete die US-Regierung eine gewaltige Suchaktion, an der 64 Flugzeuge und 8 Kriegsschiffe beteiligt waren. Über zwei Wochen suchte man mehr als 400.000 Quadratmeter Pazifik ab. Anschließend wurde sie als «verschollen, vermutlich tot» erklärt.
Wer sich auf dieses grandiose, unter Mitwirkung von Musikern wie beispielsweise Rob Moose, Marc Ribot oder des tschechischen Orchesters Filharmonie Brno entstandene Hörspiel einlässt, mag kaum glauben, dass Laurie Anderson auch schon mal den Mainstream perfekt bediente: 1981 landete sie mit der harmonisch gefälligen Sound-Spielerei «O Superman» jedenfalls einen Top-Hit in Großbritannien.
Schillerndes Künstlerpaar
Ihre große Zeit aber hatte die Avantgarde-Pionierin von Mitte der 1990er Jahre an, als sie mit ihrem Freund und späteren Ehemann Lou Reed ein aufsehenerregendes Künstlerpaar abgab. Fast wie John Lennon und Yoko One befeuerten die beiden bis zu Reeds Tod im Jahr 2013 den New Yorker Kunstbetrieb mit allerlei Überraschungen.
Trotz vorgerückten Alters gibt sich die Künstlerin mit der markanten Igel-Frisur agil und wendungsreich: 2015 drehte sie den Kinofilm «Heart Of A Dog», 2016 wurde sie in die Wettbewerbsjury der Internationalen Festspiele von Venedig berufen, 2018 gewann sie für ihre Kooperation mit dem Kronos-Quartett einen Grammy und 2020 wurde sie zum Mitglied der American Academy Of Arts And Letters gewählt.