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Nach Gold-Krimi: Lyles will Bolt übertrumpfen

Im Gegensatz zur Ära von Usain Bolt ist es über die 100 Meter in Paris so eng wie nie. Die Geschichte von Olympiasieger Noah Lyles ist bewegend. Er will etwas schaffen, was nicht einmal Bolt glückte.
Paris 2024 - Leichtathletik
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Usain Bolt

Goldmedaillengewinner Noah Lyles ließ den unfassbaren Tausendstel-Krimi beim Frühstück mit Gina Lückenkemper im olympischen Dorf liebend gerne noch einmal Revue passieren. «Das war der absolute Wahnsinn, was Noah da für eine Aufholjagd betrieben hat, um das Ding am Ende mit fünf Tausendstel zu gewinnen», sagte die Trainingskollegin von Lyles der Deutschen Presse-Agentur. «Es ist wahnsinnig cool, dass er das jetzt tatsächlich geschafft hat, weil ich jetzt ja über Jahre gesehen habe, wie hart er wirklich auch dafür arbeitet.»

Der Vorabend war ein Moment für die Olympia-Historie. Anders als in der Ära von Superstar und Weltrekordler Usain Bolt, als der Gewinner über 100 Meter locker mit bloßem Auge ausgemacht werden konnte, war es diesmal so knapp wie nie. «Die Nervosität ist bei mir durch die Decke geschossen», sagte Lückenkemper. «Das war wie in einem Rausch, dieses Rennen.»

Die Winzigkeit von fünf Tausendstelsekunden

9,79 Sekunden lautete die Zeit von US-Sprinter Lyles und dem Jamaikaner Kishane Thompson. Beide schauten bei Knister-Atmosphäre bangend, fragend, hoffend auf die Anzeigetafel im Stade de France - und als die Wertung dann Lyles als Olympiasieger präsentierte, brach es aus dem 27-Jährigen heraus. 

Lyles hüpfte wild auf und ab, schrie Freude und Erleichterung heraus, riss sich die Startnummer mit seinem Namen von der Brust und hielt sie in alle Kameras. «Amerika, ich habe es Dir doch gesagt: Ich habe sie», erklärte der Olympiasieger nach der Goldmedaille in persönlicher Bestzeit. Lyles löste sein vollmundiges Versprechen ein, das erste US-Olympia-Gold über die 100 Meter nach zwei Jahrzehnten und dem Triumph von Justin Gatlin zu holen. «Noah bringt Gold nach Hause», erklärte der frühere Champion glücklich. 

«Wolf unter Wölfen»

In den verwinkelten Stadion-Katakomben fand Lyles irgendwann die Arme von Trainer Lance Brauman, schrie lauthals abermals seine Emotionen hinaus und hätte im Glückstaumel fast seine Schuhe vergessen. «Ich bin der Wolf unter den Wölfen», tönte Lyles, der am Morgen danach schon früh ins Stadion wollte, um seine Freundin Junelle Bromfield aus Jamaika beim 400-Meter-Vorlauf zu unterstützen. 

«Die Stimme war noch nicht ganz so da, war noch ein bisschen rau und angeschlagen vom Abend gestern», verriet Lückenkemper. Kein Wunder bei dem Freudenschrei-Marathon. «Die Müdigkeit hat man noch gespürt, aber er war gut drauf. Er war glücklich und zufrieden und konnte es, glaube ich, selbst immer noch nicht fassen, dass er das Ganze geschafft hat.»

Bewegende Lebensgeschichte

Die Geschichte des extrovertierten Lyles, der vor seinen Starts mit großer Mimik und Gestik das Publikum animiert und verzückt, ist aber nicht nur die Geschichte sportlich mitreißender Erfolge. Es ist auch die des Aufstiegs eines Amerikaners aus ärmlichen Verhältnissen, der viele Probleme meistern musste. Als Kind hatte er nicht nur eine Lernschwäche, sondern auch mit Asthma zu kämpfen. 

«Es gab kaum Nächte, in denen ich nicht im Krankenhaus war und Medikamente bekam», erzählte Lyles etwa in der Netflix-Doku über Phasen aus seinem Leben. Seine Familie hatte immer wieder mit finanziellen Sorgen zu kämpfen, konnte teilweise Stromrechnungen nicht bezahlen. Die Trennung der Eltern machte ihm sehr zu schaffen. Früh musste der junge Noah lernen, sich gegen Widrigkeiten zu stemmen. 

Nächtlicher Appell von Lyles

Dass er unter Depressionen litt, verheimlicht Lyles nicht. Tief in der Pariser Nacht postete er auch eindrucksvolle Worte. «Ich habe Asthma, Allergien, Legasthenie, ADS, Angstzustände und Depressionen», schrieb er bei der Plattform X. «Aber ich sage Ihnen, dass das, was Sie haben, nicht definiert, was Sie werden können. Warum Du nicht!» Lyles wollte einfach nie akzeptieren, dass es Menschen gab, die ihm sagten, dass er es zu nichts bringen würde. 

Lyles will inspirieren. Die Corona-Spiele von Tokio, als er Bronze über 200 Meter gewann, waren für ihn ein Wendepunkt. Das erzählte er immer wieder. Ständig sei er auf der Suche danach, wie er sich verbessern könne, sagte der Showman. «Die Zuschauer haben diese Energie gewollt, und sie haben mir die Energie zurückgegeben, die ich gesucht habe.»

«Rockstar» als Gesicht der Leichtathletik

Die Leichtathletik freut sich über einen Mann, der als Topstar wieder ein Gesicht der Leichtathletik ist, ein «Rockstar» wie Weltverbandspräsident Sebastian Coe mal sagte. «Er hat in diesem Rennen bis zum Foto-Finish nie geführt, aber er hat einen Weg gefunden», hob der frühere Weltklasse-Läufer hervor. Nicht umsonst ist Lyles ein großer Hingucker in der Netflix-Serie Sprint, die Lückenkemper noch nicht ganz zu Ende geschaut hat.

«Noah ist aber auch der geborene Entertainer. Sobald eine Kamera da ist, ist Noah im Modus, und dann ist er der Entertainer. Ohne Kamera ist Noah ein anderer Mensch», verriet die 27-Jährige. Lyles kann die Sportart prägen. Erst recht, wenn er seine weiteren Goldvorhaben für die Wettbewerbe in Saint-Denis wahrmacht.

Lyles peilt in Paris noch drei weitere Goldmedaillen an, über die 200 Meter sowie mit den Staffeln über 4x100 und 4x400 Meter. Er will die Lücke auf Leichtathletik-Legende Bolt schließen. Und etwas schaffen, was selbst der große Sprint-König und achtmalige Olympiasieger aus Jamaika nie schaffte: viermal Gold bei denselben Sommerspielen. 

© dpa ⁄ Christian Kunz, Robert Semmler und Thomas Eßer, dpa
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