Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Vergeltung für die großangelegten russischen Luftangriffe auf sein Land angekündigt. An der militärischen Antwort würden auch vom Westen gelieferte F-16-Kampfjets beteiligt sein, sagte Selenskyj in seiner abendlichen Videobotschaft. Russland hatte das Nachbarland nach Angaben aus Kiew binnen kurzer Zeit mit 236 Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen attackiert. Die Angriffe galten vor allem der Energieinfrastruktur des Landes.
Die Luftangriffe töteten am Montag laut Behördenangaben mindestens sieben Menschen, 47 weitere wurden verletzt. Auch in der Nacht zum Dienstag gab es in der Ukraine erneut vielerorts Luftalarm. In der Großstadt Krywyj Rih schlug nach Behördenangaben eine russische Rakete in einem Hotel ein. Es gebe mindestens zwei Todesopfer, berichteten ukrainische Medien unter Berufung auf die Militärverwaltungen der Stadt und des Bezirks. Bis zu fünf Menschen könnten unter den Trümmern des Gebäudes verschüttet sein, die Rettungsarbeiten liefen. Die Industriestadt Krywyj Rih im Gebiet Dnipropetrowsk ist die Geburtsstadt Selenskyjs.
Details zur angekündigten Vergeltung für die Luftangriffe vom Montag nannte Selenskyj nicht. Allerdings verwies er auch auf die seit drei Wochen laufende ukrainische Offensive im russischen Gebiet Kursk. Die ukrainischen Truppen hätten dort ihre Kontrolle ausgeweitet und erneut russische Kriegsgefangene genommen, was die Möglichkeiten für den Austausch von Gefangenen verbessere.
Selenskyj: Zerstörte Energie-Infrastruktur wird repariert
Nach den russischen Angriffen berichteten die Behörden in der Ukraine von massiven Schäden an der Energieinfrastruktur. Auch für Dienstag kündigten die Energieversorger stellenweise Stromabschaltungen an. «In einigen Orten hat der Terrorstaat zivile Ziele mit Streumunition angegriffen», teilte Selenskyj nach einem Treffen mit der Militärführung über Telegram mit. Bevor die Reparaturen am Energiesektor beginnen könnten, müssten die Streubomben entschärft werden.
Schon zuvor hatte der Präsident mit Blick auf die Schäden in einer Videobotschaft mehr Waffen von den Verbündeten gefordert und eine Freigabe reichweitenstarker westlicher Raketen für den Beschuss von Zielen auf russischem Gebiet im Hinterland. Bisher gelten Beschränkungen für deren Einsatz.
Russlands Vergeltung wegen Kiews Kursk-Offensive
In vielen Regionen der Ukraine gab es am Montag stundenlang Luftalarm. Die Bombardierungen, über die auch das russische Verteidigungsministerium ausführlich berichtete, gelten als Teil der Vergeltung für die ukrainische Offensive im Gebiet Kursk, die am 6. August begann. Die ukrainische Luftverteidigung wehrte nach eigenen Angaben 201 Angriffe ab.
Kremltreue Kräfte hatten zuletzt kritisiert, dass Moskau so lange warte mit einer Antwort. Experten gehen davon aus, dass die ukrainischen Kräfte die besetzten russischen Ortschaften über Monate hinweg kontrollieren können.
Selenskyj: Kursk-Offensive kompensiert fehlende Waffenfreigabe
Präsident Selenskyj begründete die Invasion im Gebiet Kursk auch damit, dass die westlichen Verbündeten bisher reichweitenstarke Waffen nicht für den Einsatz auf russischem Gebiet freigegeben haben. Die Präsenz der ukrainischen Truppen und ihre Anstrengungen, die russische Bedrohung zu eliminieren, seien ein Weg, die fehlende Erlaubnis zu kompensieren, sagte er.
Vor drei Wochen war die Ukraine mit rund 10.000 Soldaten in die Region Kursk einmarschiert. Selenskyj hatte auch davon gesprochen, dass damit der Druck auf Moskau erhöht werden solle, sich auf Verhandlungen für eine gerechte Friedenslösung in dem vor zweieinhalb Jahren vom Kreml initiierten Krieg einzulassen. Russland erklärte nach der Invasion seine Bereitschaft zu Gesprächen für nichtig.
Ukrainischer Oberkommandierender berät mit Nato-General
Der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte, Olexander Syrskyj, informierte im Nachrichtennetzwerk Telegram über ein Gespräch mit dem Oberbefehlshaber der Nato-Streitkräfte in Europa, Christopher G. Cavoli. Dabei sei es um die Lage an der Front, um eine Stärkung der Luftverteidigung und um den «Schutz der Städte und kritischen Infrastruktur vor den ständigen Terroranschlägen der Russischen Föderation» gegangen. Syrskyj schilderte demnach den Bedarf an Waffen, weiterer Munition und militärischer Ausrüstung.
Abgesehen von den Geländegewinnen bei der Offensive im russischen Gebiet Kursk sind die ukrainischen Streitkräfte im Osten des eigenen Landes weiter massiv unter Druck. Angesichts des russischen Vormarschs in der Region Pokrowsk im Gebiet Donezk teilte Selenskyj mit, bei einem Treffen mit der Militärführung sei eine Verstärkung für die Region beschlossen worden. Die russischen Truppen hatten im Raum Donezk zuletzt immer wieder die Einnahme ganzer Ortschaften verkündet.
Region Donezk ordnet weitere Evakuierungen an
Die ukrainischen Behörden ordneten angesichts des russischen Vormarsches in der Gegend weitere Evakuierungen an. Wegen der verschlechterten Sicherheitslage sei die Zone für Zwangsevakuierungen ausgeweitet worden, Kinder und ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten müssten ihre Häuser verlassen, teilte der Gouverneur von Donezk mit. Insgesamt wurden 27 Ortschaften im Raum Kostjantyniwka und Selydowe aufgelistet. Zuvor war wegen des Vorrückens der russischen Truppen bereits im Raum Pokrowsk eine Evakuierung von Dörfern angeordnet worden.
Was am Dienstag wichtig wird
In dem umkämpften russischen Gebiet Kursk steht auch ein Atomkraftwerk, das Moskau durch die ukrainischen Angriffe in Gefahr sieht. Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, will sich am Dienstag mit einem Team vor Ort ein Bild von der Lage machen. Angesichts der Kämpfe in der Nähe des Atommeilers sei die Situation als «ernst» einzustufen, sagte der Generaldirektor.
Das AKW in der Stadt Kurtschatow liegt etwa 30 Kilometer entfernt vom äußersten belegten Vorstoß der Ukrainer. Vorige Woche informierte Russland die IAEA über eine abgewehrte Drohne im Gebiet des Kraftwerks. Bislang ist jedoch unklar, ob das AKW ein Ziel des ukrainischen Vormarschs ist.
Grossi hat bereits mehrfach das russisch besetzte AKW Saporischschja in der Ukraine besucht und dort ein IAEA-Team stationiert. Die ständige Präsenz der internationalen Fachleute dient nicht nur der Beobachtung der Lage, sondern auch dazu, von Kampfhandlungen abzuschrecken, die eine Atomkatastrophe auslösen könnten.