Jannik Sinner präsentierte sich als nachdenklicher US-Open-Sieger. Den Zeigefinger an die Schläfe gelegt sprach der Italiener über die «schwierigen Momente» wegen des Doping-Wirbels beim Grand Slam in New York. Mit ernster Miene dachte die Nummer eins des Welt-Tennis auch an seine kranke Tante und hinterfragte drei Stunden nach dem großen Titeljubel das Leben als Profisportler.
«Sie ist ein sehr besonderer Mensch in meinem Leben», sagte Sinner und widmete ihr den klaren Finalsieg mit 6:3, 6:4, 7:5 über den Amerikaner Taylor Fritz. Er wisse nicht, wie lange er seine Tante noch in seinem Leben haben werde. Schon als er jung gewesen sei, habe sie ihn zu Skirennen gefahren. «Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich mehr Zeit mit den Menschen verbringen, die mir wirklich etwas bedeuten. Im Sport können leider Dinge passieren, aber das wahre Leben ist etwas anderes.»
Doping-Wirbel als dunkle Wolke
Natürlich lieferte Sinner auch die traditionellen Bilder eines Grand-Slam-Champions: inniger Kuss mit Freundin Anna Kalinskaja auf der Tribüne. Es gab eine Umarmung von Sinners befreundetem Star-Sänger Seal. Dazu die freudige Jubelpose mit Silberpokal im Konfettiregen und vor der italienischen Flagge.
Aber wirklich befreit wirkte Sinner nicht nur wegen der Sorge um seine Tante, sondern vor allem wegen der wie eine dunkle Wolke über ihm hängenden Affäre um seinen Doping-Freispruch keineswegs. «Es war ein bisschen in meinem Kopf, und ist es immer noch», gestand der Südtiroler. «Es ist nicht verschwunden.» Um Abstand zu gewinnen, wird Sinner nun nicht im Davis Cup für Italien auflaufen, sondern erst wieder bei den Turnieren in Asien einsteigen.
Erst kurz vor den US Open war öffentlich geworden, dass Sinner bereits im März zweimal positiv auf das verbotene anabole Steroid Clostebol getestet worden war. Der Weltranglistenerste durfte trotzdem weiter spielen, wenige Tage vor Start der US Open erhielt er den Freispruch. Seine Erläuterung, dass das verbotene Mittel durch eine Massage versehentlich in seinen Körper gekommen sei, wurde als schlüssig angesehen.
Djokovic und Becker gratulieren
Mehrere Kontrahenten wie der 24-malige Grand-Slam-Turniersieger Novak Djokovic prangerten in New York eine Ungleichbehandlung mit anderen Spielern in ähnlich gelagerten Fällen an. Dass Sinner jedoch wirklich etwas Verbotenes getan haben könnte, mutmaßte kaum einer. «Congratulazioni», gratulierte so auch der Serbe Djokovic kurz nach dem Matchball über die sozialen Netzwerke.
«Forza Jannik», schrieb Legende Boris Becker an Sinner und lobte die «mentale Stärke» des Italieners. «Nach einigen schwierigen Monaten, in denen alles auf dem Spiel stand, hat dein unerschütterlicher Glaube in die Wahrheit den Unterschied gemacht.»
Auch im Finale zeigte sich Sinner sportlich ungerührt, dominierte den überforderten Fritz in dessen erstem Grand-Slam-Finale. Im dritten Satz schöpfte der Amerikaner mit dem Break zum 4:3 zwar noch einmal Hoffnung, so dass auch Pop-Superstar Taylor Swift auf der Ehrentribüne jubelnd auf und ab sprang. Doch nervenstark holte sich Sinner seinen zweiten Grand-Slam-Titel nach den Australian Open im Januar. «Sinner erobert Amerika», titelte die «Gazzetta dello Sport».
Erstmals seit 2022: Die großen Drei des Tennis ohne Grand-Slam-Titel
Erstmals seit 2002 gewann diese Saison damit keiner der sogenannten Großen Drei - Novak Djokovic (37), Rafael Nadal (38) und der schon zurückgetretene Roger Federer (43) - einen Grand-Slam-Titel. Stattdessen gingen jeweils zwei Trophäen an Sinner und den 21 Jahre alten Spanier Carlos Alcaraz. «Es ist schön, neue Champions, neue Rivalitäten zu sehen», sagte Sinner. «Es ist gut für den Sport.»
Mit dem jeweiligen Doppelcoup der beiden Jung-Superstars könnte die tektonische Verschiebung im Welt-Tennis kurz vor dem Abschluss stehen. Bei Nadal ist es nur noch eine Frage des Zeitpunkts, wann er seinen Rücktritt bekanntgibt. Djokovic hat mit dem Olympia-Triumph von Paris sein größtes noch verbliebenes Ziel erreicht.
So darf sich die nächste Generation, zu der auch der gegen Fritz gescheiterte Alexander Zverev gehört, verstärkte Hoffnungen machen. «Vielleicht ist es etwas offener geworden», sagte Fritz über die Chancen bei den großen Turnieren. «Du musst nicht unglaublich gut spielen, um in einem Turnier weit zu kommen.»