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Kindeswohl immer öfter gefährdet

Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt: Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen steigt seit Jahren. Die Ämter sind so überlastet, dass sie teils nicht mal mehr Zahlen liefern.
Illustration zu Kindeswohlgefährdungen
Immer wieder müssen die Behörden einschreiten. (Symbolbild) © Fabian Sommer/dpa

Ein besorgniserregender Trend setzt sich fort: Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in Deutschland hat einen neuen Höchststand erreicht. 2023 stellten die Jugendämter bei mindestens 63.700 Kindern oder Jugendlichen eine Gefährdung fest, wie das Statistische Bundesamt mitteilt. Das waren rund 1.400 Fälle beziehungsweise zwei Prozent mehr als 2022. Eine Kindeswohlgefährdung kann zum Beispiel Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt sein. 

In Wahrheit dürften die Zahlen aber deutlich höher liegen, wie die Statistiker erklären: «Da einige Jugendämter für das Jahr 2023 keine Daten melden konnten, ist aber sicher, dass der tatsächliche Anstieg noch deutlich höher ausfiel.» Neben Fehlern bei der Datenerfassung und dem Cyberangriff auf einen IT-Dienstleister wurde als Grund für die fehlenden Meldungen im Jahr 2023 auch die Überlastung des Personals im Jugendamt genannt. 

Kinderschutzbund: Jugendämter überlastet

Der Kinderschutzbund findet das besorgniserregend: «Wir sind beunruhigt, ob die Kinder noch ausreichend im Blick sind, wenn die Strukturen in den Jugendämtern derart überfordert sind», sagt die stellvertretende Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes, Martina Huxoll-von Ahn. Die Arbeit beim Jugendamt sei für viele «nicht besonders attraktiv». Es gebe schlicht zu wenige Mitarbeiter, die zu hohe Fallzahlen bewältigen müssen. Die Beschäftigten seien oft stark belastet und liefen ständig Gefahr, wegen einer möglichen Fehlentscheidung angegriffen zu werden. «Da besteht ein erheblicher Nachbesserungsbedarf.»

Werden für die fehlenden Meldungen im Jahr 2023 nur die Ergebnisse aus dem Vorjahr hinzugezählt, liegt der Anstieg schon bei 7,6 Prozent. Wird zusätzlich der allgemeine Anstieg berücksichtigt, erhöht sich das Plus sogar auf 8 Prozent. Nach dieser Schätzung läge die Gesamtzahl im Jahr 2023 bei 67.300 Fällen.

Franziska Drohsel von der Bundeskoordinierung Spezialisierter Fachberatung gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend geht davon aus, dass es in Wahrheit noch viel mehr Fälle gibt, die das Jugendamt nicht erfährt: «Das Dunkelfeld ist erheblich größer als das, was wir im Hellfeld sehen.» Die steigenden Zahlen belegen ihrer Ansicht nach, «dass es weiterhin ein großes Problem in der Gesellschaft gibt im Umgang mit Kindern».

Langfristiger Anstieg

Die Zahl der behördlich festgestellten Kindeswohlgefährdungen steigt kontinuierlich seit Einführung der Statistik im Jahr 2012. Ausnahmen gab es nur 2017 und im Corona-Jahr 2021. Neben der tatsächlichen Zunahme der Fälle könnte das aber auch an einer «höheren Sensibilität und Anzeigebereitschaft» liegen, so die Statistiker.

Die Bundeskoordinierungsstelle und der Kinderschutzbund halten es für eine gute Nachricht, dass mehr Verdachtsfälle gemeldet werden - auch wenn sich mancher Verdacht nicht erhärtet. Die Jugendämter haben 2023 insgesamt rund 211.700 Hinweismeldungen geprüft. Bei 30 Prozent der Hinweismeldungen haben die Jugendämter den Verdacht auf Kindeswohlgefährdung anschließend bestätigt.

«Die zuverlässigsten Hinweisgeber waren dabei die Betroffenen selbst», sagen die Statistiker. Bei Selbstmeldungen lag die Bestätigungsquote mit 60 Prozent doppelt so hoch. Die betroffenen Kinder waren 2023 im Schnitt 8,2 Jahre alt.

«Kinder unterstützen, dass sie sich Hilfe holen.»

Für Fachfrau Drohsel bedeutet das: «Wir müssen Kinder unterstützen, dass sie sich Hilfe holen.» Der Staat habe einen Fürsorgeauftrag. «Wenn es nicht gelingt, Kinder vor Gewalt zu schützen, muss er dafür sorgen, dass die Betroffenen möglichst schnell Hilfe bekommen.»

Nur in zwei Prozent aller Fälle meldeten sich die betroffenen Minderjährigen selbst beim Jugendamt. Am häufigsten kamen diese Hinweise von Polizei und Justiz. 22 Prozent der Verdachtsfälle wurden von Verwandten, Bekannten oder aus der Nachbarschaft gemeldet. «Es ist enorm wichtig, dass das Umfeld sensibilisiert wird», sagt Huxoll-von Ahn. 

Gefährdung geht häufig von einem Elternteil aus

In den meisten Fällen von Kindeswohlgefährdung gab es Anzeichen von Vernachlässigung (58 Prozent). Bei 36 Prozent ging es um psychische Misshandlungen. In 27 Prozent der Fälle wurden Indizien für körperliche Misshandlungen und in 6 Prozent für sexuelle Gewalt gefunden. In knapp jedem vierten Fall gab es mehr als einen Verdacht.

Neue Ergebnisse zeigen nun auch, von wem die Gefährdung des Kindes ausging: In 73 Prozent aller Fälle war das die eigene Mutter oder der eigene Vater. In vier Prozent war es ein neuer Partner eines Elternteils und in sechs Prozent eine andere Person wie eine Tante, ein Trainer, der Pflegevater oder eine Erzieherin.

© dpa ⁄ Sandra Trauner, dpa
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