«Der Horror! Der Horror!» - Die letzten Worte des so charismatischen wie brutalen Kolonialverwalters Kurtz in Joseph Conrads Buch «Herz der Finsternis» hallen auch noch ein Jahrhundert nach dem Tod des Autors nach.
Am 3. August 1924 starb Conrad. Er gilt als einer der größten englischsprachigen Schriftsteller, obwohl er Englisch erst im Erwachsenenalter lernte und zeitlebens mit einem starken Akzent sprach. Er wurde in Canterbury begraben.
Conrad beschreibt Gier und Gewalt kolonialer Agenten
Conrads Werk, das der britischen Gesellschaft den Spiegel über das Grauen in ihrem Kolonialreich vorhielt und der Seefahrer-Nation ein Kompendium an Erzählungen über das Meer lieferte, gilt bis heute als prägend für unsere Sicht auf die Ära des Imperialismus.
In dem 1899 erschienenen «Herz der Finsternis» beschreibt er, wie koloniale Handelsvertreter unter dem Deckmantel einer Zivilisation bringenden Unternehmung mit zügelloser Gier und Gewalt herrschten.
Die Verkörperung ist der Handelsvertreter Kurtz, der sich an einem abgelegenen Außenposten als gottähnliche Gestalt verehren lässt und zum Herr über Leben und Tod aufspielt - bis er zuletzt, von Krankheit niedergestreckt, im letzten Atemzug vor der eigenen Monstrosität erschaudert.
«Conrad wurde in ein Land des Herzens hineingeboren»
Geboren wird Conrad im Jahr 1857 als Jozef Teodor Konrad Korzeniowski in der Stadt Berdytschiw in der heutigen Ukraine. Seine Familie gehörte dem polnischen Adel an, der zur Blütezeit des multireligiösen Vielvölkerstaats Polen-Litauen große Teile Mittel- und Osteuropas dominiert.
Doch für die meiste Zeit von Conrads Leben ist seine Heimat als Staat ausgelöscht - aufgeteilt zwischen den Großmächten Russland, Preußen und Österreich. Polen existiert nicht mehr. Den größten Teil der Ukraine hat sich das Zarenreich einverleibt.
«Joseph Conrad wurde in ein Land des Herzens hineingeboren. Von Anfang an war seine Welt eine der existenziellen Krise: Wo gehöre ich hin? Wer bin ich? Und daraus folgend, was ist Heimat?», sagt der emeritierte Literaturprofessor Allan Simmons von der St Mary's University in London im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Die Uni beherbergt ein Zentrum für Joseph-Conrad-Studien.
Reise in den Kongo wird zum Steinbruch
Nach dem frühen Tod seiner Eltern, die sich beide im Widerstand gegen die russischen Besatzer engagiert hatten, suchte Conrad Antworten auf seine Fragen auf den Weltmeeren. Er segelt im Dienste zunächst französischer und dann englischer Handelsgesellschaften um die Welt. Mittelmeer, Karibik, Afrika, Australien, Südostasien - es gibt kaum einen Winkel der Erde, den er nicht bereist. Aus diesen Erfahrungen schöpft er später für seine Werke.
Eine Expedition in den Kongo, die ihn in Berührung mit den unaussprechlichen Gräueln der Kolonialherrschaft des belgischen Königs Leopold II. bringt, wird zum Steinbruch für «Herz der Finsternis».
Conrad beobachtet mit Bestürzung, wie die Gier nach Kautschuk und Elfenbein die selbst ernannten Überbringer einer höheren Zivilisation jede Zivilisiertheit verlieren lässt. Morde, Folter und Verstümmelungen: Einheimische werden mit brutalsten Methoden ausgebeutet.
Später lässt sich Conrad in England nieder und beginnt, Romane und Kurzgeschichten zu schreiben, darunter «Lord Jim» (1900), «Nostromo» (1904) und «Under Western Eyes» («Mit den Augen des Westens», 1911). Doch Weltruhm bleibt ihm lange verwehrt. Auch finanziell hat er zu kämpfen.
Conrad zieht den Leser emotional in das Geschehen hinein
Der kommerzielle Erfolg stellt sich erst spät ein - mit dem Buch «Chance» (Deutsch: «Spiel des Zufalls»), das 1913 veröffentlicht wird. Dem folgen weitere Erfolge, die in ihrer literarischen Qualität aber nicht an die frühen Werke heranreichen.
Zu Conrads Stil gehört die Verwendung von Rahmenerzählern, mit denen er einen Vermittler zwischen dem Geschehen und den Lesenden schafft und sie emotional hineinzieht. «Es gibt keinen neutralen Boden. Man muss sich darauf einlassen», sagt Simmons. Und er ist ein Meister der Ironie. Dass er den Imperialismus kritisierte, fiel den Lesern seiner Bücher oft erst auf den zweiten Blick auf.
In «Apocalypse Now» spielt das Grauen in Vietnam
Die Strahlkraft Conrads ist enorm. Autoren wie Ernest Hemingway, George Orwell und viele weitere lassen sich von ihm inspirieren. Auf Grundlage seiner Romane werden 70 bis 80 Verfilmungen geschaffen.
Darunter der Anti-Kriegs-Film «Apocalypse Now» von 1979, der die Geschichte aus «Herz der Finsternis» in die Kulisse des Vietnam-Kriegs verpflanzt mit Marlon Brando in der Rolle des Kurtz.
Doch es gibt auch Kritik. Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe bezeichnete Conrad einst als «verdammten Rassisten», der die unterdrückten Menschen in den Kolonien nur als Requisiten betrachtet habe für Erzählungen, die sich im Kern nur um Europäer drehten.
Literaturwissenschaftler Simmons findet diese Sichtweise gerechtfertigt. Er glaubt aber, dass sie außer Acht lässt, dass Conrad mit seinem Mitgefühl für die Opfer des Imperialismus eine echte Ausnahmegestalt seiner Zeit gewesen sei.
Das wahre «Herz der Finsternis», so glauben manche, sieht Conrad nicht im undurchdringbaren Dschungel Afrikas, sondern an der Themse. Doch er beschränkt seine Kritik nicht auf das britische Empire. Ganz Europa sei in die Figur des Kurtz eingeflossen, heißt es an einer Stelle in dem Buch. Dass es ein deutscher Name ist, dürfte auch kein Zufall gewesen sein.