Wer diesseits des Atlantiks an lateinamerikanische Musik denkt, dem kommen vielleicht als erstes brasilianischer Samba, kubanische Salsa oder argentinischer Tango in den Sinn. Aber da ist auch der Vals peruano, der peruanische Walzer. Gespielt von kleinen Gruppen mit mehreren Gitarren und dem Cajón, einer eigentümlichen Kistentrommel. Und gesungen von Stars, die auf dem Subkontinent noch heute jeder kennt, wie Chabuca Granda (1920-1983) mit ihrem dutzendfach gecoverten Hit «La flor de la canela», Lucha Reyes (1936-1973) oder Óscar Avilés (1924-2014).
In diese Welt der klingenden Folklore führt Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa mit seinem neuen Roman «Die große Versuchung», der heute erscheint. Hauptfigur ist ein bettelarmer Musikwissenschaftler, der mit seinen Forschungen zu einem geheimnisvollen Gitarristen groß herauskommt, am Ende aber daran irre wird. Vargas Llosa, im südperuanischen Arequipa geboren, doch längst in Spanien lebend, versichert, dass dies sein letzter Roman sei. Schließlich ist der Grandseigneur der lateinamerikanischen Literatur in diesem Jahr 88 geworden.
Los geht die Geschichte in der Zeit um 1990, als Peru vom Terror der maoistischen Guerilla «Sendero Luminoso» (Leuchtender Pfad) zerrissen wurde. Der Protagonist Toño Azpilcueta lebt in Villa del Salvador, einem Armenviertel Limas. Er schlägt sich mehr schlecht als recht mit Rezensionen und Beiträgen für unbedeutende Musikblätter durch und muss manchmal seine Frau anpumpen, um ins Café zu gehen.
Kann Musik die Gesellschaft einen?
Sein Leben wendet sich, als er zu einem Konzert eines ihm bis dahin unbekannten Gitarristen namens Lalo Molfino eingeladen wird. Er ist hin und weg, glaubt, den besten Gitarrenspieler der Welt gehört zu haben, und will mehr über ihn wissen. Doch bevor er ihn wiederfindet, stirbt dieser an der Schwindsucht. Toño beschließt, ein Buch über Lalo zu schreiben. Er reist in den Norden Perus, nach Chiclayo und in den Küstenort Puerto Eten, wo Lalo zur Welt kam und wo Toño einiges über dessen abenteuerliche Herkunft erfährt.
Die intellektuellen Ambitionen Toño Azpilcuetas jedoch reichen weit über eine Künstlerbiografie hinaus, er verknüpft die Lebensgeschichte des Gitarristen mit der Geschichte der peruanischen Musik und deren Bedeutung für das Land. Seine These: Die kreolische Musik, der Vals, die Marineras, die Huainitos, würden die Peruaner zusammenführen, die Menschen verschiedener Herkunft, Hautfarbe und Sprache einander näherbringen, die Integration des Landes befördern.
Die erste Auflage von «Lalo Molfino und die stille Revolution» wird ein Erfolg, eine zweite folgt sogleich, auch wenn manch einen Leser Toños Thesen eher erheitern als überzeugen. Als jener aber die dritte Auflage mit einem Schwall zusätzlicher Details und Themenstränge überfrachtet, wird diese unverkäuflich, der Verleger ist ruiniert und Toño am Ende.
Mehr als 60 Jahre ist es her, dass Mario Vargas Llosa mit «Die Stadt und die Hunde» Peru auf die Landkarte der Weltliteratur setzte. Kritiker sind sich einig, dass die frühen Romane die literarisch anspruchsvollsten waren und sein Spätwerk nicht mehr an sie heranreicht. Dennoch ist auch sein nun letzter von gut zwei Dutzend Romanen lesenswert. Es ist ein Buch über das Schreiben eines Buches, eine Hommage an die musikalische Tradition Perus - und zugleich eine Warnung davor, einfache Lösungen für komplexe Probleme zu suchen, also gesellschaftliche Gegensätze einfach wegmusizieren zu können.
Familiäres Detail am Rande
Im Roman treffen reale auf fiktive Personen, der Protagonist Toño Azpilcueta pflegt eine platonische Liebe zu der in Peru sehr bekannten Sängerin Cecilia Barraza (geb. 1952) - deren Lieder man wie die der anderen peruanischen Musikgrößen auf Youtube nachhören kann. Ungewöhnlich - aber für Vargas Llosa nicht untypisch - ist der Aufbau des Romans: Die ungeraden Kapitel enthalten die eigentliche Handlung, die geraden die Geschichte der peruanischen Musik und Gesellschaft, mit anderen Worten das Buch im Buch. Mit seinen Ansichten zur spanischen Kolonialgeschichte entpuppt sich Toño als Alter Ego Marios.
In einem knappen Nachwort vermerkt Vargas Llosa, dass er nach diesem Roman nur noch einen Essay über den französischen Denker Jean-Paul Sartre (1905-1980) schreiben wolle und danach nichts mehr. Gut zu wissen. Bedeutungsvoll die Widmung, die der Nobelpreisträger seinem letzten Roman voranstellt. «Für Patricia» heißt es dort. Gemeint ist Patricia Llosa, langjährige Ehefrau und Mutter dreier gemeinsamer Kinder, die Vargas Llosa 2015 kurz nach der Goldenen Hochzeit für eine Jüngere verließ.
Seinerzeit wurde der Romancier zum Thema des Madrider Boulevards, weil er mit Isabel Preysler (geb. 1951) zusammenzog, einer schillernden Society-Lady, Ex-Frau des Schlagerstars Julio Iglesias und Mutter von Enrique Iglesias. Ende 2022 trennten sie sich, da war der Roman schon fertig. Seit dem Sommer 2023 sah man Mario wieder häufiger in Begleitung Patricias, die - der ähnliche Nachname deutet es an - auch seine Cousine ist.