Der sonst so ruhige Bundestrainer Alfred Gislason eskalierte nach dem Thriller mit Happy End im Olympia-Viertelfinale förmlich an der Seitenlinie, seine Schützlinge bildeten eine ausgelassene Jubeltraube um Matchwinner Renars Uscins. Deutschlands Handballer haben nach einer grandiosen Aufholjagd Europameister und Olympiasieger Frankreich mit 35:34 (29:29, 14:17) nach Verlängerung niedergerungen und dürfen von der ersten Medaille bei einem großen Turnier seit Olympia-Bronze vor acht Jahren in Rio de Janeiro träumen.
«Es ist so surreal. Die ganzen Wochen waren surreal. Das Spiel heute stellt das aber nochmal auf den Kopf», resümierte der von den dramatischen 70 Minuten sichtlich gezeichnete Spielmacher Juri Knorr.
Selbst Gislason hatte so ein Spiel «noch nie» erlebt. «Die Mannschaft war phänomenal und ist stets ruhig geblieben. Ich bin stolz darauf, wie sie diese Aufgabe gemeistert hat», sagte der Isländer und fügte hinzu: «Wenn man bedenkt, wie unerfahren unsere Mannschaft ist, ist es wahnsinnig, so eine Leistung unter diesen Umständen zu bringen.»
U21-Weltmeister Uscins und Späth führen DHB-Team zum Sieg
In einem epischen Match vor einer aufgeheizten Handball-Kulisse von rund 27.000 Fans in Lille, in dem die DHB-Auswahl zu Beginn der zweiten Halbzeit schon mit sechs Toren zurücklag, avancierten die U21-Weltmeister Uscins und David Späth zu sportlichen Helden. «Renars ist einfach Wahnsinn. Er ist das ganze Turnier ein Faktor bei uns. Ich finde es Wahnsinn, mit welchem Selbstvertrauen er da reingeht», lobte Kapitän Johannes Golla.
Rückraum-Ass Uscins rettete die aufopferungsvoll kämpfende deutsche Mannschaft mit seinem Ausgleich zum 29:29 in letzter Sekunde in die Verlängerung und war mit 14 Toren der überragende Mann auf dem Parkett. «Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte, dass ich in so einen Flow gerate auf einmal. Ich habe alles um mich herum vergessen. Ich habe vergessen, wie wichtig die Würfe sind», berichtete Uscins fassungslos.
Dabei sah das DHB-Team sechs Sekunden vor dem Ende der regulären Spielzeit schon wie der Verlierer aus. Bei einem Tor Rückstand hatte Frankreich Ballbesitz, doch Julian Köster fing einen Pass von Dika Mem ab und bediente Uscins, der eiskalt verwandelte. «Zum Glück sucht sich Mem den Köster-Jungen aus, um über ihn drüber zu werfen», scherzte Linksaußen Rune Dahmke und schüttelte ungläubig den Kopf: «Eigentlich gibt es so etwas gar nicht. Ich suche die ganze Zeit nach etwas Vergleichbarem, aber ich finde nichts».
Jetzt wartet Spanien
Denn auch in der Verlängerung traf Uscins nach Belieben, während Späth hinten den Laden weiter dichtmachte und damit ein weiterer Sieg-Garant im DHB-Team war. Im Halbfinale am Freitag kommt es nun zum Wiedersehen mit Spanien. «Wenn wir jetzt feiern, werden wir nicht als Sieger aus dem Halbfinale gehen», bremste Gislason schon wenige Minuten nach dem Abpfiff ein wenig die Euphorie. In der Vorrunde hatte das DHB-Team in einem hochumkämpften Spiel gegen die Südeuropäer 33:31 gewonnen und damit den Einzug in die K.o.-Phase vorzeitig perfekt gemacht.
Die Duelle bei der Heim-EM im Januar sowie der WM im Vorjahr hatte Deutschland gegen Frankreich jeweils klar verloren. Mit ihrem ersten Pflichtsieg gegen den Olympia-Gastgeber seit 2013 revanchierte sich das deutsche Team auch im Namen der DHB-Frauen, die am Vortag gegen die Équipe Tricolore im Viertelfinale gescheitert waren. «Keine Ahnung, warum uns das heute passiert ist, warum wir das Glück hatten. Es war einfach da», befand Knorr.
Karabatic geht mit Applaus
Frankreichs Aus bedeutete zugleich das Karriereende des dreimaligen Welt-Handballers Nikola Karabatic, der nach dem Abpfiff feierlich verabschiedet und auch von den deutschen Spielern mit großem Applaus bedacht wurde. Der 40 Jahre alte Starspieler, der in seiner mit Trophäen dekorierten Karriere dreimal Olympia-Gold und vier Weltmeistertitel holte, hört ohne das erhoffte Edelmetall endgültig auf. «Er ist der Größte aller Zeiten und das wird er auch eine ganze Weile lang bleiben», rühmte Dahmke seinen Kontrahenten.
Ein deutscher Sieg lag schon vor dem Anpfiff in der Luft. Das Selbstvertrauen war so groß wie lange nicht mehr. Auch, weil die Gislason-Auswahl erst im Juli ein Testspiel gegen Frankreich gewonnen hatte. Doch diesmal spielte das DHB-Team gegen eine ganze Nation. Die Stimmung im Fußballstadion des OSC Lille war noch einmal aufgeheizter als beim Duell der Frauen-Teams. Mit Pfeifkonzerten begleiteten die Fans viele deutsche Spielzüge. «Normalerweise bin ich gewohnt, dass die Fans mitschreien. Hier haben sie uns ausgebuht. War auch mal eine coole Erfahrung», berichtete Späth.
Aufholjagd wird belohnt
Der deutschen Abwehr fehlte in der Anfangsphase die Präsenz. Weil zeitgleich Torhüter Andreas Wolff enttäuschte, kamen die Gastgeber immer wieder über den Kreis zu einfachen Treffern. In der Offensive fehlte es an Effizienz. Hinzu kam, dass Frankreichs Keeper Vincent Gerard alleine in der ersten Hälfte mehr als zehn Würfe parierte. Erst als Späth für Wolff zwischen die Pfosten des deutschen Tors rückte, gab es mehr Rückhalt. Dennoch lag das deutsche Team kurz nach Wiederbeginn vor den Augen von IOC-Präsident Thomas Bach mit 14:20 hinten. Was folgte, dürfte einen Eintrag in die Sport-Geschichtsbücher finden.