Es war im Juli des vergangenen Jahres. Renars Uscins hatte die deutschen Handball-Junioren als Kapitän der U21-Auswahl gerade zum Weltmeistertitel im eigenen Land geführt. Mit einer Goldmedaille um den Hals träumte der Jungstar damals von einer erfolgreichen Karriere bei den Profis. «Ich hoffe, dass wir alle diesen Schritt gehen und dann in der A-Nationalmannschaft etwas aufbauen können», sagte der heute 22-Jährige. Es klang, als würde er selbst nicht zu 100 Prozent daran glauben.
13 Monate nach diesem Blick in die Glaskugel kämpft Uscins mit der DHB-Auswahl bei den Olympischen Spielen um eine Medaille. Der Rückraumspieler ist aus dem Team von Bundestrainer Alfred Gislason nicht mehr wegzudenken. Auch im Halbfinale gegen Spanien wird es am Freitag (16.30 Uhr) auf ihn ankommen.
Mit einer bemerkenswerten Unbekümmertheit hat sich Uscins bei der Heim-EM im Januar einen Startplatz in der DHB-Auswahl erkämpft und diese bei Olympia in die Medaillenspiele geworfen. Er habe nicht erwartet, so schnell «so einen festen Platz hier zu haben», gestand Uscins nach dem epischen 35:34-Sieg nach Verlängerung gegen Frankreich im Viertelfinale.
Das Sechs-Sekunden-Wunder von Lille
Wer künftig an das Sechs-Sekunden-Wunder von Lille denkt, wird dies mit dem Namen Renars Uscins verbinden. Die DHB-Männer saßen schon fast im Bus zurück nach Deutschland, als Uscins nach einem eklatanten Fehlpass der Franzosen mit seinem Last-Second-Tor zum 29:29 den EM-Vierten in die Verlängerung rettete. Der Siegtreffer kurz vor der Schlusssirene gelang natürlich wieder Uscins. «Ich ziehe wirklich meinen Hut», lobte Kollege Julian Köster. Bundestrainer Alfred Gislason attestierte seinem Schützling ein «phänomenales Spiel».
14 Tore gelangen dem Überflieger allein gegen Frankreich. Schon in der Vorrunde war Uscins bei den Siegen gegen Schweden, Japan und Spanien Deutschlands erfolgreichster Werfer. In der Torjägerliste steht der DHB-Hoffnungsträger mit 42 Toren auf Platz vier.
Dänemarks Welthandballer Mathias Gidsel (47) führt das Ranking an. Mit dem Bundesliga-Profi von den Füchsen Berlin könnte es im Finale zum direkten Duell um die Torschützenkrone kommen. Dazu müssen die Skandinavier ihr Halbfinale gegen Slowenien gewinnen - und die deutschen Handballer natürlich gegen Spanien.
Mit seinem Auftritt im Viertelfinale überraschte Rückraum-Rakete Uscins sogar sich selbst. «Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte, dass ich in so einen Flow gerate auf einmal», sagte er und schilderte seine Treffer so: «Ich habe alles um mich herum vergessen. Alles, was passiert. Alles, was ist. Ich habe vergessen, wie wichtig die Würfe sind», berichtete Uscins, der das Rezept für seinen kometenhaften Aufstieg kennt: «Was dazu gehört, ist der Respekt, den man immer abstellen muss, wenn Weltklassespieler vor einem stehen.»
«Jetzt willst du alles»
Eigentlich sollten die Routiniers um Kapitän Johannes Golla die jungen Wilden im deutschen Team mitreißen. Nun avanciert Uscins zum Matchwinner, Führungsspieler und Motivator. Der Linkshänder schlüpft in Rollen, die eigentlich gar nicht für ihn vorgesehen sind. Als Marko Grgic und Juri Knorr vom Siebenmeterpunkt die Nerven versagten, schnappte sich Uscins den Ball. «Ich bin selbstbewusst genug, die alle reinzumachen. Da habe ich gesagt, ich nehme jetzt den Ball, weil ich auch gesehen habe, dass die anderen vielleicht ein wenig verunsichert sind», schilderte Uscins die heikle Phase.
Mit seinem fulminanten Auftritt hat Uscins nicht nur Ex-Fußball-Nationalspieler Toni Kroos begeistert. Er entfachte bei seinen Teamkollegen die Gier nach Gold. «Jetzt wollen wir alles. Jetzt willst du das Beste und das Beste ist Gold», erklärte Linksaußen Rune Dahmke. Nach der Reifeprüfung gegen Frankreich strotzt die vergleichsweise unerfahrene deutsche Mannschaft vor Selbstvertrauen. Fünf Siege aus sechs Spielen sind der verdiente Lohn einer bislang überzeugenden Olympia-Vorstellung.
Die Lücke zu den weltbesten Teams wird kleiner. «Wir pirschen uns langsam ran. Wir wollen zeigen, dass wir zurecht da sind und wir wollen endlich was mit nach Hause nehmen», sagte Kapitän Golla und bezeichnete Uscins als wichtigen Faktor: «Er macht das Tor in der 60. Minute. Er macht das letzte Tor. Er macht die entscheidenden Tore». Auch gegen Spanien?