Erst brüllte Gareth Southgate all seine Freude lautstark heraus, dann präsentierte er sich locker und gelöst vor der Weltpresse. Nach wochenlanger Kritik und sogar Becherwürfen der eigenen Fans empfand Englands Nationaltrainer in Dortmund ein Stück Genugtuung. Wieder im Endspiel, wieder eine Chance auf den ersten Triumph seit 1966 - und das nach all den Vorwürfen.
«Wir sind zum zweiten Mal im Finale. Das ist noch nicht das Ende. Wir schenken den Fans atemberaubende Abende. Wir schenken ihnen die besten Abende seit 50 Jahren», sagte Southgate nach dem 2:1-Sieg der Three Lions gegen die Niederlande mit einer Portion Trotz. Zuvor hatte er Ollie Watkins, der in der Nachspielzeit das Siegtor schoss, für Kapitän Harry Kane eingewechselt. Die englischen Experten, sie lobten Southgate plötzlich für «perfekte Auswechslungen» und betonten unisono, der Trainer verdiene «allen Respekt».
«Qualität ist die eine Sache»
Der Finaleinzug des Teams um Bayern-Star Kane und Champions-League-Sieger Jude Bellingham ist nicht die Folge von besonders brillanten Leistungen. Stattdessen spielte neben Glück und einem Geniestreich von Bellingham im Achtelfinale auch Moral eine Rolle. «Qualität ist die eine Sache, aber die anderen Attribute wie Charakter oder Mentalität kannst du im Training nicht lernen. Du bekommst sie aus Erfahrungen», sagte Bellingham bei der BBC.
Am Sonntag (21.00 Uhr/ARD und MagentaTV) wartet nun die ganz große Prüfung gegen Favorit Spanien, der nacheinander Gastgeber Deutschland und Vize-Weltmeister Frankreich aus dem Turnier nahm. «Wir spielen gegen das beste Team des Turniers und wir haben einen Tag weniger zur Vorbereitung. Aber wir sind immer noch hier und wir kämpfen», sagte Southgate nach dem dritten englischen Krimi bei dieser EM.
Nach einem Sieg in der Verlängerung gegen die Slowakei und einem Erfolg im Elfmeterschießen gegen die Schweiz benötigte es nun ein Tor in der Nachspielzeit gegen die Niederlande, die durch Xavi Simons in Führung gegangen war. Ein Elfmeter von Kane und das Joker-Tor von Watkins ließen Englands Fans jubeln.
Lineker nah am Lebensziel
Die nationale Fußball-Ikone Gary Lineker war nach dem packenden Fußball-Abend von Dortmund voller Adrenalin. «Yesssssssss! Ollie Watkins, Du absolute Schönheit», schrieb der euphorisierte Lineker nach dem späten Siegtor bei X. Zuvor hatte der TV-Experte einen großen englischen EM-Titel als sein «Lebensziel» ausgerufen. Nun ist Linekers Lebensziel nur noch einen weiteren Sieg entfernt. Nach 58 Jahren des Wartens.
Die Erfahrung des verlorenen EM-Finals von 2021 will Southgate im Olympiastadion nutzen. Damals war England gegen Italien früh in Führung gegangen, bevor es im Elfmeterschießen doch noch eine Niederlage setzte. Southgate wurde damals vorgehalten, er habe vor dem Showdown vom Punkt die falschen Spieler eingewechselt.
Zu viel Belastung für «den kollektiven Puls»
«Wir sind jetzt ruhiger in den K.o.-Spielen und sind viel besser vorbereitet. Aus jeder Erfahrung lernst du. Wenn ich 2021 im Finale nicht alles richtig gemacht haben sollte, entschuldige ich mich hiermit. Ich versuche, es diesmal besser zu machen», sagte der Trainer.
Besser machen war auch das Stichwort der Royals. Der britische König Charles III. gratulierte zwar zum Einzug ins Endspiel, knüpfte aber auch eine Bitte an seinen Glückwunsch. «Wenn ich euch ermutigen dürfte, den Sieg zu sichern, bevor Wundertore in letzter Minute oder ein weiteres Elfmeterdrama nötig würden», sagte der König einer Mitteilung des Palastes zufolge.
Dann würde «die Belastung für den kollektiven Puls und Blutdruck der Nation erheblich gemildert», hieß es weiter. Prinz William, der auch Vorsitzender des Fußballverbandes FA ist, war bislang bei zwei Spielen im Stadion vor Ort. Ob er am Sonntag auch in Berlin dabei ist, war zunächst offen.