Die japanische Organisation Nihon Hidankyo von Überlebenden der Atomwaffenabwürfe auf die Städte Hiroshima und Nagasaki wird in diesem Jahr mit dem Friedensnobelpreis geehrt. Die Graswurzelbewegung erhält den wichtigsten Friedenspreis der Erde für ihre Bemühungen um eine atomwaffenfreie Welt. Auch habe die Organisation durch Zeitzeugen-Aussagen demonstriert, dass solche Waffen nie wieder eingesetzt werden sollten, erklärt das norwegische Nobelkomitee in Oslo.
Bereits vor sieben Jahren hatte das Komitee den Nobelpreis an eine Organisation vergeben, die sich für nukleare Abrüstung einsetzt, damals die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, kurz Ican. Ican gratulierte den diesjährigen Gewinnern sofort.
Tomoyuki Minomaki, Präsident der japanischen Friedensorganisation, zeigte sich bei einer Pressekonferenz in Hiroshima sehr gerührt über den Preis. «Ein Traum von einem Traum. Es ist unglaublich», rief Minomaki und kniff sich vor Freude weinend in die Wange, als könne er die Nachricht nicht fassen. «Ich möchte weiterhin an die Menschen in der Welt appellieren, die Atomwaffen abzuschaffen und einen dauerhaften Frieden zu erreichen.»
Japans neugewählter Regierungschef Shigeru Ishiba zeigte sich ebenfalls erfreut über die Verleihung des Nobelpreises an die Organisation der Atombombenabwürfe. Sie sei «extrem bedeutsam», erklärte Ishiba.
«In diesem Moment der Menschheitsgeschichte lohnt es sich, uns daran zu erinnern, was Atomwaffen sind: die zerstörerischste Waffe, die die Welt je gesehen hat», sagte der neue Vorsitzende des Nobelkomitees, Jørgen Watne Frydnes. Die heutigen Atomwaffen hätten eine noch viel größere Zerstörungskraft als die, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden. «Sie können Millionen töten und hätten katastrophale Auswirkungen auf das Klima. Ein Atomkrieg könnte unsere Zivilisation zerstören», warnte Frydnes.
Zeitzeugen der Atomwaffenabwürfe 1945
Mit der Auszeichnung von Nihon Hidankyo richtet das Nobelkomitee den Blick der Welt auch auf die im nächsten Jahr anstehenden 80. Jahrestage der Atombombenabwürfe über Japan während des Zweiten Weltkriegs. Die USA hatten die vernichtenden Waffen im August 1945 über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen. Schätzungsweise 120.000 Einwohner wurden bei den beiden Abwürfen getötet, eine ähnlich hohe Zahl starb außerdem in den Folgemonaten und -jahren an Verbrennungen und Strahlungsverletzungen.
Bis heute sind es die einzigen Einsätze von Atomwaffen in einem Krieg gewesen. Seit dem Ausbruch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hatte der Kreml zuletzt jedoch immer wieder gedroht, dass Atomwaffen in dem anhaltenden Konflikt Verwendung finden könnten, sollte sich der russische Staat etwa durch die vom Westen gelieferten Waffen in seiner Existenz bedroht sehen.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) betrachtet die Ehrung von Nihon Hidankyo vor diesem Hintergrund auch als wichtiges Zeichen in Richtung von Kremlchef Wladimir Putin. «Gerade in Zeiten, wo aggressive Mächte wieder mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen, ist es umso wichtiger, dass die Welt insgesamt deutlich macht: Frieden bedeutet, dass solche Waffen niemals zum Einsatz kommen», sagte sie, ohne Putin beim Namen zu nennen.
Beitrag zum «nuklearen Tabu»
Nihon Hidankyo wurde von Überlebenden aus Hiroshima und Nagasaki gegründet. Diese Zeitzeugen, auch Hibakusha genannt, hätten geholfen, eine weit verbreitete Opposition gegen Atomwaffen auf der ganzen Welt zu erzeugen, würdigte Frydnes.
«Die Hibakusha helfen uns, das Unbeschreibliche zu beschreiben, das Undenkbare zu denken und den unbegreiflichen Schmerz und das Leid, das durch Atomwaffen verursacht wird, zu begreifen», sagte der 39-Jährige.
Das Nobelkomitee wolle dennoch eine ermutigende Tatsache anerkennen: «Seit fast 80 Jahren ist keine Atomwaffe mehr in Kriegen eingesetzt worden», sagte Frydnes. Die außergewöhnlichen Anstrengungen von Nihon Hidankyo hätten dabei dazu beigetragen, ein «nukleares Tabu» zu etablieren. Dieses Tabu stehe heute jedoch unter Druck, warnte er.
Atomwaffenarsenale werden modernisiert
In der Tat sind die Atommächte der Erde nach Angaben von Friedensforschern seit längerem dabei, ihre Atomwaffenarsenale zu modernisieren und aufzurüsten. Zu diesen Mächten werden die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China sowie Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel gezählt.
Die Gesamtzahl der Atomwaffen sinkt weltweit zwar, weil die USA und Russland nach und nach alte Sprengköpfe aus der Zeit des Kalten Kriegs abbauen. Dafür beschleunigt sich nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri aber der Trend, dass Atomsprengköpfe einsatzbereit gehalten werden.
Der Gesamtbestand betrug nach Sipri-Angaben Anfang des Jahres schätzungsweise 12.121 atomare Sprengköpfe, von denen sich etwa 9.585 in militärischen Lagerbeständen für den potenziellen Einsatz befanden. Rund 3.904 dieser Sprengköpfe waren auf Raketen und Flugzeugen befestigt - 60 mehr als ein Jahr zuvor.
Sipri-Direktor begrüßt Auszeichnung
Atomwaffen seien zuletzt stärker ins Rampenlicht geraten, sagte Sipri-Direktor Dan Smith der Deutschen Presse-Agentur unter anderem mit Blick auf die russischen Drohungen gegen den Westen. Dass das nukleare Tabu mehr und mehr zu verschwinden scheine, sei eine sehr gefährliche Sache, warnte er. «Wenn Sie wissen wollen, warum das gefährlich ist, dann schauen Sie auf Hiroshima und Nagasaki. Und die Hibakusha erinnern uns daran.» Die Auszeichnung von Nihon Hidankyo sei daher eine «intelligente, gut informierte und umsichtige Wahl», sagte Smith.
Ein Preis fehlt noch
Damit stehen fast alle Nobelpreisträger dieses Jahres fest. In dieser Woche sind in Stockholm bereits die diesjährigen Preisträger in den Kategorien Medizin, Physik, Chemie und Literatur verkündet worden. Am Montag folgt zum Abschluss noch die Auszeichnung in Wirtschaftswissenschaften, die als einzige nicht auf das Testament des Dynamit-Erfinders Alfred Nobel (1833-1896) zurückgeht, sondern seit Ende der 1960er Jahre von der schwedischen Zentralbank gestiftet wird.
Feierlich überreicht werden die Nobelpreise allesamt traditionell an Nobels Todestag am 10. Dezember, der Friedensnobelpreis dabei als einziger nicht in Stockholm, sondern in Oslo. Dotiert sind die Auszeichnungen mit einem Preisgeld in Höhe von elf Millionen schwedischen Kronen (knapp 970.000 Euro) pro Kategorie.