Deutsche Leser kennen den russischen Schriftsteller Dmitry Glukhovsky vor allem als Meister düsterer und tiefgründiger Endzeitromane («Outpost», «Metro»). Nun zeigt sich der 45 Jahre alte Autor, der auch Journalist ist, in seinem Buch «Wir. Tagebuch des Untergangs» von seiner politischen Seite – in einer messerscharfen und sehr bitteren Abrechnung mit seiner Heimat. Er zeichnet anhand von Ereignissen der vergangenen mehr als zehn Jahre nach, wie sich Russland unter Kremlchef Wladimir Putin zu einem immer autoritäreren Staat entwickelt hat und aus seiner Sicht auf den Abgrund zusteuert.
Entstanden ist eine Art Nachschlagewerk mit pointierten Schilderungen einschneidender Ereignisse, darunter die Vergiftung und der Tod des Kremlgegners Alexej Nawalny, der sich Putin wie kein anderer mutig entgegenstellte und korrupte und mafiose Strukturen aufdeckte. Glukhovskys Texte drehen sich um Staatsdoping nicht nur bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi, um Wahlfälschung und Geschichtsvergessenheit, um Atomdrohungen und fundamentalistische Staatsideologien sowie Repressionen und Angstmache als Regierungsform.
«Manch einer sieht in Russland ein Reich des Bösen», schreibt Glukhovsky. «Ich empfinde es eher als ein Reich des Unglücks, der Missverständnisse und der unerfüllten Hoffnungen, ein Reich mit einem Minderwertigkeitskomplex, mit dem naiven Wunsch, die ganze Welt in Erstaunen zu versetzen, ein Reich der endlosen Selbstzweifel, das sich trotz allem immer wieder beweisen will.»
Kritik an Putins Lügen und Moskaus Angriffskrieg gegen die Ukraine
Vor allem aber geht es immer wieder um den zerstörerischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, den Glukhovsky - wie viele andere Experten auch - so nicht hat kommen sehen. Er erinnert an die vielen Lügen Putins und seines Machtapparats, der immer wieder behauptete, Moskau beginne keinen Krieg. Er beleuchtet die rüpelhafte und hasserfüllte Sprache russischer Diplomaten und die Rolle der als kriminell verschrienen russisch-orthodoxen Kirche. Diese ist nicht nur eine wichtige Machtstütze für Putin, sondern befürwortet auch den Krieg glühend.
«Ihr Ruf ist im postsowjetischen Russland nie wirklich makellos gewesen: Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) hat Schwerverbrecher heiliggesprochen, dubiose Geschäfte mit zollfrei importiertem Tabak und Alkohol gemacht und Machthaber im Wahlkampf offen unterstützt», schreibt er. «Ich kann nicht an einen Gott glauben, dessen Botschafter auf Erden sturzbesoffen in Sportkabrios und gangstertypischen Offroadern herumfahren, weil ihnen offenbar weder ihr eigenes noch das Leben anderer etwas wert ist.»
Glukhovsky, der wegen politischer Verfolgung durch die russische Willkürjustiz im Exil in der EU lebt, beteuert im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur, er könne sehr wohl trennen zwischen eigenem Schicksal der Flucht und seiner politischen Analyse. «Ich hasse Russland nicht. Ich liebe meine Heimat», sagt er. Klar wird dem Leser dennoch, dass der Schriftsteller, dessen Bestseller in Russland heute praktisch verboten sind, selbst am «tragischen Schicksal» des Landes beinahe verzweifeln könnte.
Autor räumt eigene Fehleinschätzungen der Vergangenheit ein
Glukhovsky sieht Russland auf einem Weg hin zu einer totalitären Diktatur wie Nordkorea, räumt aber immer wieder auch ein, dass er sich gelegentlich mit seinen Einschätzungen und Prognosen vertan hat. Er nutzt diesen Sammelband mit vielen, teils auch in deutschen Medien erschienen journalistischen Beiträgen auch, um selbstkritisch eigene Irrtümer einzuordnen – und um Ereignisse noch einmal in einen klareren historischen Kontext zu stellen.
Das «Tagebuch» ist eines von vielen in diesem Herbst veröffentlichten Büchern zu Putin und seinem Krieg. Es bietet Russland-Interessierten wenn auch keine neuen Einblicke, so doch wortgewaltige Schilderungen und tiefe kulturelle Einblicke. Es beschreibt Verbindungen des von Oligarchen gestützten Machtapparats mit der Organisierten Kriminalität. Stark sind die hochemotionalen, teils wütenden Kommentare eines Beobachters, der lange zwischen Russland und der westlichen Welt pendelte – und nun aber nicht mehr in seine Heimat Moskau kann.
Gibt es einen Ausweg aus der Lage in Russland? Nötig sei eine Neugründung Russlands als Staat, sagt Glukhovsky, weil Putin das Land in eine Sackgasse geführt habe. Er sieht durchaus Potenzial für Widerstand gegen Putin. «In den vergangenen drei Jahrzehnten vor dem Krieg sind doch Menschen einer Generation herangewachsen, die nach einem normalen menschlichen glücklichen und freien Leben streben.»
Zwar werde Putin versuchen, auch «diese neue Generation zu verderben», sich zu unterwerfen. Trotzdem blicke er optimistisch in die Zukunft, weil der Krieg auch in Russland unpopulär sei und viele Menschen im Land auf ein anderes Leben hofften, sagt Glukhovsky. Dann äußert er aber auch gleich wieder die Befürchtung, dass ein wie auch immer gearteter Sieg Putins in dem Konflikt mit dem Westen dazu führen werde, «dass sich die autoritären Strukturen weiter verfestigen» und damit die Gefahr für Europa insgesamt wachse.