Imane Khelifs Finaleinzug treibt die schier endlose Debatte um das olympische Frauenboxen auf die Spitze. Unfreiwillig bekommt der Wettbewerb in Paris seit Tagen eine nie dagewesene Aufmerksamkeit und hat wegen seiner gesellschaftlichen und politischen Dimension längst die Ebene des Sports verlassen. Sogar im US-Präsidentschaftswahlkampf hat Donald Trump die Kontroverse um das Geschlecht der Algerierin Khelif und der Taiwanerin Lin Yu-Ting als Reizthema entdeckt. Mindestens genauso wie um das Startrecht und sportliche Fairness geht es in dem emotionalen Fall um die hochbrisante Frage geschlechtlicher Identität und Vorwürfe von Desinformation und Stimmungsmache.
Was hat die Diskussionen ausgelöst?
Das Internationale Olympische Komitee ließ Khelif und Lin in Paris starten, obwohl die beiden bei der WM 2023 nach nicht näher spezifizierten Geschlechtertests ausgeschlossen wurden. Diese führte der umstrittene Weltverband IBA durch, der vom IOC nicht mehr anerkannt wird. Das IOC begründet seine Entscheidung damit, dass beide Boxerinnen als Frau geboren seien, das weibliche Geschlecht in ihren Pässen zu stehen hätten und seit Jahren im Frauenboxen antreten würden. Auch bei Olympia in Tokio vor drei Jahren waren sie am Start, eine Debatte gab es damals nicht.
Warum ist die Aufregung so groß?
Der Fall spielt vor dem Hintergrund einer aufgeheizten gesellschaftlichen Debatte. Das zeigen zum einen die überfluteten Kommentarspalten in sozialen Netzwerken, zum anderen auch die Äußerungen von meist rechtspopulistischen Meinungsmachern. Der Disput um geschlechtliche Identität wird vor allem von konservativen Kreisen zunehmend als Kulturkrieg geführt. Trump, die wegen ihrer Äußerungen zu Transmenschen seit Jahren umstrittene «Harry Potter»-Autorin J.K. Rowling oder auch Tech-Milliardär Elon Musk mischten sich vor diesem Hintergrund in den Olympia-Streit ein. «Ich werde alle Männer aus dem Frauensport fernhalten», teilte Trump mit und setzte damit den Ton.
Wie reagiert das IOC?
«Wir dürfen daraus keinen Kulturkrieg machen, sondern müssen an die Menschen denken, die von Falschinformationen betroffen sind», sagte IOC-Sprecher Mark Adams. Die Diskussion um das Geschlecht von Khelif und Lin sei «ein Minenfeld», die Athletinnen könnten seelische Schäden erleiden. Schon in der Vergangenheit war die Dachorganisation in der Frage der Kategorisierung in das binäre System von Mann und Frau in Erklärungsnot geraten.
Was sagt Khelif selbst?
Ein Olympiasieg im Finale am Freitag (22.51 Uhr) gegen die Chinesin Yang Liu wäre für sie «die beste Antwort» auf die Startrecht-Debatte. Sie wolle mit ihren Auftritten in Paris auch «eine Botschaft an die Menschen in der Welt» senden, sagte die 25-Jährige. Mobbing könne «Menschen zerstören, es kann die Gedanken, den Geist und den Verstand von Menschen töten».
Wie reagieren die Zuschauer in Paris?
Wie groß die Kritik in der Boxszene und wie hart die Anfeindungen in den sozialen Medien auch sind: Sobald Khelif den Ring betritt, hat sie ein Heimspiel. Bei ihrem Halbfinalsieg gegen die Thailänderin Janjaem Suwannapheng auf dem 15.000 Zuschauer fassenden Court Philippe-Chatrier sorgten zahlreiche Fans mit algerischen Flaggen und lauten «Ime»-Rufen für eine Atmosphäre wie bei einem WM-Kampf von Profi-Schwergewichtlern. In Frankreich leben Millionen Menschen algerischer Abstammung. «Ich hoffe, ich kann die Algerier und die arabische Welt glücklich machen», sagte Khelif.
Ist Khelif zu stark für die Gegnerinnen?
In jedem Fall war sie physisch in ihrer Gewichtsklasse bis 66 kg bislang eine Klasse für sich. Halbfinalgegnerin Suwannapheng musste nach harten Treffern vom Ringrichter angezählt werden. Khelifs Auftaktgegnerin Angela Carini aus Italien hatte nach nur 46 Sekunden aufgegeben und anschließend über heftige Schmerzen in der Nase geklagt. Finalgegnerin Yang ist aber gleich groß (1,78 Meter), amtierende Weltmeisterin im Weltergewicht und trat bislang ebenfalls souverän auf.
Gibt es Parallelen zum Fall Caster Semenya?
Die Fälle ähneln sich, auch wenn konkrete Details über die Geschlechtertests immer noch nicht bekannt sind. Bei der WM 2009 in Berlin sorgte die 800-Meter-Läuferin Semenya aus Südafrika für Aufsehen, als sie sensationell triumphierte und ihre männliche Erscheinung Zweifel an ihrem Geschlecht auslöste. Der Leichtathletik-Weltverband führte in der Folge Regeln für Athletinnen mit einer Überproduktion männlicher Hormone ein. Der Fall liegt inzwischen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Semenya kämpft seit Jahren gegen die Testosteron-Regeln. Mit Medikamenten müsste sie ihren hohen natürlichen Testosteronspiegel unter einen bestimmten Schwellenwert senken, um über 800 Meter startberechtigt zu sein.
Was wird dem IOC als Organisator der Box-Wettbewerbe vorgeworfen?
Das IOC um Präsident Thomas Bach hat die Brisanz der Causa womöglich unterschätzt. Nach dem WM-Ausschluss für Khelif und Lin waren zumindest heikle Fragen zu ihrer Olympia-Zulassung erwartbar. Der aus der olympischen Welt ausgesperrte IBA um den umstrittenen russischen Präsidenten Umar Kremlew nutzt jetzt die Gelegenheit, um öffentlichkeitswirksam Rechnungen zu begleichen und gegen das IOC und Bach zu wettern. Das IOC setzt bei seiner Argumentation auf das Regelwerk. Der Meinungsstreit aber tobt in den Grauzonen. In anderen Sportarten wie der Leichtathletik oder dem Schwimmen sind Testosteron-Grenzwerte in den internationalen Regelwerken festgeschrieben.
Gefährdet die Debatte die olympische Box-Zukunft?
Klar ist, dass die Aufregung die Notwendigkeit eines verantwortlichen Weltverbandes nochmal unterstreicht. Der im November gegründete Verband World Boxing darf sich gute Chancen auf den Zuschlag noch in diesem Jahr machen, die Aufnahme des Boxens ins Programm für Los Angeles 2028 gilt dann als sehr wahrscheinlich. World Boxing würde das Problem vom IOC erben und müsste Lösungen finden.