Dass ein Baby keine Geburtsurkunde erhält, ist in Deutschland nahezu undenkbar. In vielen Ländern Afrikas ist es jedoch gang und gäbe: Nur jedes zweite Kind unter fünf Jahren ist nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef in Afrika südlich der Sahara offiziell registriert. Das hat schwerwiegende Folgen für Bildung, Gesundheitsfürsorge, Beschäftigungsaussichten und Menschenrechte.
Afrika mit seinen rund 1,3 Milliarden Menschen gilt als Kontinent mit der jüngsten Bevölkerung. Jede dritte Person in den 46 Ländern südlich der Sahara ist zwischen 10 und 24 Jahre alt. Gleichzeitig wächst die Bevölkerung in der Region am schnellsten weltweit. Bis 2050 werden hier laut UN-Projektionen 2,1 Milliarden Menschen leben - viele Millionen davon ohne legale Identität.
Am schlimmsten betroffen sind Äthiopien und Somalia: Hier haben laut Unicef nur drei Prozent aller Kinder unter fünf Jahren eine Geburtsurkunde. In Sambia sind lediglich 14 Prozent registriert, während in Tansania, Angola und im Tschad nur etwa jedes vierte Baby eine Geburtsurkunde besitzt. In Uganda und im Südsudan besitzt nur etwa jedes dritte Kind das wichtige Dokument.
«Eine Geburtsurkunde gibt einem Kind eine legale Existenz, einen offiziellen Namen, eine Nationalität, eine Lebensgrundlage. Ohne Geburtenregistrierung ist es von Beginn des Lebens an benachteiligt», sagt Amandine Bollinger, die Leiterin für Kinderschutz von Unicef in Angola.
Schwierigkeiten bei Bank, Jobs, Wahlen
Die erste Folge sei oft, dass ein Baby ohne Geburtsurkunde keine Schutzimpfungen bekomme, so Bollinger. Ein schlechter Start ins Leben. Kinder – und später Erwachsene – ohne legale Identität können nicht nachweisen, wer sie sind oder wie alt sie sind. Sie können kein Konto eröffnen, ihr Wahlrecht ausüben, Eigentum erwerben, ein Erbe antreten oder sich auf einen Job im legalen Arbeitsmarkt bewerben. Sie sind nicht vor Menschenhandel oder Kinderheirat geschützt und in Gefahr, als Kindersoldaten missbraucht zu werden.
Die niedrige Quote an Geburtenregistrierungen hat zahlreiche Ursachen: In Afrika finden Geburten hauptsächlich zu Hause statt, oft in abgelegenen ländlichen Gegenden. Viele Eltern sind nicht im Besitz der notwendigen Dokumente, um eine Geburtsurkunde zu beantragen. In manchen Fällen leugnen Männer ihre Vaterschaft oder sind nicht präsent. Dazu kommt, dass zahlreiche Mütter aufgrund des niedrigen Bildungsniveaus gar nicht wissen, dass ihr Baby registriert werden muss.
«Ein Kind, das nicht registriert ist, ist ein nicht existierendes Kind»
Wer keinen Ausweis hat, kommt in keiner Statistik vor. Djanina Baptista, die leitende Gynäkologin des Cajueiro Krankenhauses in Angolas Hauptstadt Luanda, bringt die Konsequenzen auf den Punkt: «Ein Kind, das nicht registriert ist, ist ein nicht existierendes Kind. Es ist nicht im System.» Ihre Belegschaft bemühe sich, werdende Mütter über die Wichtigkeit von Geburtsurkunden aufzuklären, sagt Baptista, aber in einem überfüllten Krankenhaus mit überlastetem Personal sei das nur begrenzt möglich.
Dabei haben Mütter, die im Cajueiro Krankenhaus entbinden, Glück. Es ist Angolas einziges staatliches Krankenhaus mit einem integrierten Büro für Geburtenregistrierung. 25 weitere Registrierungsbüros in Krankenhäusern wurden während der Corona-Pandemie geschlossen und bislang nicht wieder eröffnet. Allerdings können Neugeborene auch im Cajueiro Krankenhaus nur zu bestimmten Zeiten registriert werden: werktags zwischen 8 Uhr und 15 Uhr. Wer zu anderen Zeiten entbindet, steht vor verschlossenen Türen.
Claudia Lopes hat dort vor wenigen Stunden einen Sohn geboren und wartet darauf, entlassen zu werden. Dass es die Möglichkeit gibt, eine Geburtsurkunde für den kleinen Lucas zu beantragen, davon hatte die 22-Jährige noch nie gehört. Ihre eigenen Dokumente oder die des Vaters hat sie nicht dabei. «Aber jetzt, wo ich davon weiß, werde ich wiederkommen und es machen», meint die junge Mutter.
Ohne Geburtsurkunde der Eltern kaum Hoffnung auf Registrierung des Kindes
Doch selbst wenn Eltern über die Wichtigkeit einer Geburtsurkunde informiert werden, stehen viele vor großen bürokratischen Hürden. Madalena Zongo ist 17 Jahre alt, alleinstehende Mutter und wohnt in Luandas einkommensschwachem Bezirk Grafanil. Ihren einen Monat alten Sohn Gabriel kann sie nicht registrieren lassen: Denn sie selbst hat keine Geburtsurkunde und der Vater ihres Babys verschwunden ist. Auch Zongos Eltern haben keine gültigen Dokumente, erzählt sie. Damit gibt es kaum Hoffnung, dass Baby Gabriel jemals registriert wird. «Es ist ein Teufelskreis. Wenn Babys bei der Geburt nicht registriert werden, sind ihre Chancen, das später im Leben nachzuholen, minimal», meint Bollinger.
Zongo macht sich Sorgen, denn sie weiß aus eigener Erfahrung, dass eine fehlende Geburtsurkunde viele Chancen im Leben verbaut. Sie selbst hatte Schwierigkeiten, von einer Schule aufgenommen zu werden. Mit elf Jahren kam sie schließlich in die 1. Klasse. Nach der 3. Klasse, mit 13 Jahren, brach sie ihre Schullaufbahn ab. «Es war einfach zu schwierig, jedes Schuljahr neu um Aufnahme zu bitte. Ich habe aufgegeben», sagt sie.
Millionen Menschen ohne Geburtsurkunde in Afrika, das verursacht Armut und macht Perspektiven zunichte – Gründe, die die irreguläre Migration Richtung Europa antreiben. Doch selbst die, die es nach Europa schaffen, stehen wieder vor der gleichen Hürde: Ohne Ausweisdokumente können sie ihre Identität nicht nachweisen. «Damit sind ihre Chancen auf einen Asylantrag geringer. Oder sie fühlen sich gezwungen, eine falsche oder gefälschte Identität annehmen zu müssen», erklärt Bollinger.
In der deutschen Debatte wird irregulären Migranten oft unterstellt, dass sie ihre Pässe absichtlich auf der Flucht wegwerfen. Tatsächlich ist es so, dass viele gar keine Ausweisdokumente besitzen.