Nach der Freigabe neuer Ukraine-Hilfen durch den Kongress hat US-Präsident Joe Biden ein sofortiges neues Militärpaket für das von Russland angegriffene Land angekündigt. Die Ukraine, die sich derzeit in einer besonders schwierigen Kriegsphase befindet, zeigte sich nach dem monatelangen Bangen erleichtert.
USA schicken Milliardenpaket mit Militärhilfe
«In den nächsten Stunden» werde man damit beginnen, Ausrüstung für die Flugabwehr, Artillerie, Raketensysteme und gepanzerte Fahrzeuge in die Ukraine zu schicken, sagte Biden bei einer Rede im Weißen Haus. Das neue Paket mit einem Wert von rund einer Milliarde US-Dollar enthält einer vom US-Verteidigungsministerium veröffentlichten Übersicht zufolge dringend benötigte Artilleriegranaten verschiedener Kaliber und Raketen für Flugabwehrsysteme sowie gepanzerte Fahrzeuge. Übereinstimmenden Medienberichten zufolge sollen auch ATACMS-Raketen enthalten sein - unklar war allerdings zunächst, welche Reichweite diese haben.
Nach einer monatelangen innenpolitischen Hängepartie hatte der US-Kongress mit der Zustimmung des Senats milliardenschwere Hilfen für die von Russland angegriffene Ukraine gebilligt - und damit den Weg für neue Waffenlieferungen erst freigemacht. Das Gesetz sieht Hilfen im Umfang von rund 61 Milliarden US-Dollar (57 Milliarden Euro) für Kiew vor. Die US-Regierung hatte die Freigabe der Mittel vom Parlament lange und vehement gefordert.
Selenskyj dankt Biden
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigte sich erleichtert über das amerikanische Sofort-Hilfspaket. «Wir bekommen die Unterstützung, die wir brauchen, um unsere Leben weiter vor russischen Angriffen zu schützen», schrieb Selenskyj auf der Plattform X (früher Twitter). «Ich bin Präsident Biden, dem Kongress und allen Amerikanern dankbar, die erkennen, dass wir Putin den Boden unter den Füßen wegziehen müssen, anstatt ihm zu gehorchen», fügte er hinzu. Mit Blick auf die schwere Lage an der Front betonte der ukrainische Staatschef in seiner abendlichen Videoansprache aber auch: «Nun werden wir alles tun, um die sechs Monate auszugleichen, die in Debatten und Zweifeln vorbeigezogen sind.»
USA lieferten bereits weitreichende ATACMS-Raketen
Bekannt wurde nun zudem, dass die USA bereits vor einiger Zeit ATACMS-Raketen an die Ukraine geliefert haben. Die Präzisionswaffen seien von der US-Regierung im Stillen genehmigt worden, teilte das Verteidigungsministerium mit. Sie seien Teil eines von den USA im März bekannt gegebenen Notfall-Militärpakets für die Ukraine gewesen, dort aber nicht explizit aufgeführt worden, «um die operative Sicherheit der Ukraine auf deren Ersuchen hin aufrechtzuerhalten». Auch bei diesen bereits gelieferten ATACMS-Raketen gab es zunächst keine Angaben darüber, ob es sich um Modelle mit einer Reichweite von rund 300 Kilometern oder solche mit geringerer Reichweite handelte.
Der Sender NBC News berichtete unter Berufung auf US-Regierungsvertreter, die Geschosse seien bereits in der vergangenen Woche bei einem Angriff auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim sowie in dieser Woche bei einem Angriff auf die besetzte Stadt Berdjansk im Südosten der Ukraine zum Einsatz gekommen.
Bereits im Oktober hatte die Ukraine bei der Verteidigung gegen den russischen Angriffskrieg ATACMS-Raketen aus den USA eingesetzt. Damals handelte es sich um Modelle mit einer geringeren Reichweite von rund 165 Kilometern. Die ukrainische Regierung hatte ATACMS-Raketen mit höherer Reichweite gefordert.
Bei dem Waffensystem (englisch: Army Tactical Missile System) gibt es die Sorge, dass damit auch Ziele in Russland angegriffen werden könnten. Daher reagierten die USA und andere westliche Partner lange sehr zögerlich auf die Forderungen aus Kiew.
OSZE-Bericht listet schwere Verbrechen gegen ukrainische Gefangene auf
Russland hat laut Menschenrechtsexpertinnen seit 2014 Tausende ukrainischen Zivilisten illegal und systematisch inhaftiert. Sie hätten «hinreichende Gründe zur Annahme» gefunden, dass auf diese Weise Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verübt worden seien, hieß es in einem Bericht, den drei Juristinnen in einer Sitzung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Wien präsentierten.
Ende Februar hatten 45 der 57 OSZE-Mitgliedsländer, darunter auch Deutschland, einen Bericht zur Gefangennahme von ukrainischen Zivilisten in Auftrag gegeben. Dabei nutzten sie OSZE-Regularien, mit denen solche Untersuchungen auch ohne Zustimmung des betroffenen Landes in Gang gesetzt werden können.
Wie viele Menschen seit der russischen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014 in der Ukraine festgenommen worden sind, konnten Veronika Bilkova aus Tschechien, Cecilie Hellestveit aus Norwegen und Elina Steinerte aus Lettland nicht exakt feststellen. Die Zahl bewege sich aber in den Tausenden, berichteten sie aufgrund von Dokumenten sowie Aussagen von ukrainischen Behördenvertretern, Opfern und Zeugen. Gefangene sind demnach Folter, sexueller Gewalt, Hunger und Durst ausgesetzt. Die Expertinnen erinnerten auch an dokumentierte Fälle von getöteten Festgenommenen und Gefangenen, wie etwa im Massaker von Butscha im Frühjahr 2022.
Selenskyj: Moskau will Friedenskonferenz verhindern
Selenskyj wirft Russland vor, eine für Juni geplante internationale Friedenskonferenz in der Schweiz verhindern zu wollen. Vor ukrainischen Diplomaten und ausländischen Botschaftern in Kiew berief sich Selenskyj bei dieser Aussage auf Geheimdienstinformationen. Es gebe «konkrete Daten, dass Russland nicht nur den Friedensgipfel stören will, sondern auch einen konkreten Plan hat: wie man das macht, wie man die Zahl der teilnehmenden Länder reduziert, wie man vorgeht, um sicherzustellen, dass es noch länger keinen Frieden gibt», sagte der Präsident am Mittwochabend. Genauere Angaben machte er nicht.
Man werde die Partner auf diplomatischen Kanälen informieren über die Moskauer Versuche, sagte Selenskyj nach Angaben seines Präsidialamtes. «Wir müssen gemeinsam dagegen vorgehen, wir müssen uns gemeinsam für einen gerechten Frieden einsetzen.» Die Staats- und Regierungschefs der Welt sollten bald Einladungen zu dem Treffen erhalten, kündigte der Präsident an. Die neutrale Schweiz plant für den 15. und 16. Juni in der Nähe von Luzern eine Friedenskonferenz zur Ukraine.
Pistorius: Russlands Rüstungsproduktion füllt bereits Depots
Russland produziert derweil nach Einschätzung von Verteidigungsminister Boris Pistorius bereits Waffen und Munition über den Bedarf für den Angriffskrieg gegen die Ukraine hinaus. Registriert werde, wie mit steigenden Rüstungsausgaben und einer Anordnung der Kriegswirtschaft «ein großer Teil oder ein Teil dessen, was neu produziert wird, gar nicht mehr an die Front geht, sondern in den Depots landet», sagte Pistorius in der ARD-Sendung «Maischberger».
Er warnte zugleich vor weiteren militärischen Ambitionen von Russlands Präsident Wladimir Putin. Pistorius sagte: «Jetzt kann man naiv sein und sagen, das macht er nur aus Vorsicht. Ich würde eher als skeptischer Mensch sagen in dem Fall, das macht er, weil er im Zweifel irgendwas vorhat oder haben könnte.»
Selenskyj dankt Katar für Hilfe
Derweil bedankte sich Selenskyj beim einflussreichen Golf-Emirat Katar für Hilfe bei der Freilassung von 16 gewaltsam nach Russland verschleppten ukrainischen Kindern. «Dank der Vermittlungsbemühungen unseres befreundeten Katars wurden sie freigelassen und mit ihren Familien zusammengeführt», schrieb Selenskyj auf der Plattform X (vormals Twitter). Die Kinder und ihre Angehörigen befänden sich derzeit in Katar zur medizinischen, psychischen und sozialen Genesung.
Die Ukraine identifizierte bis Februar eigenen Angaben zufolge knapp 20.000 Kinder, die nach Russland oder in russisch besetzte Gebiete der Ukraine gebracht worden sein sollen. Nur mehrere Hundert davon sollen bisher zurückgekehrt sein. Die Angaben konnten unabhängig zunächst nicht überprüft werden.
Die Golfstaaten wie Katar pflegen meist gute Beziehungen mit Russland und bemühen sich im Ukraine-Krieg um Neutralität. Moskau ist für sie ein wichtiger Partner etwa im Energiebereich. Russland wird vorgeworfen, durch die gewaltsame Verschleppung absichtlich die Identität ukrainischer Kinder zu zerstören und tiefe emotionale und psychologische Traumata zu verursachen.
Papst ruft Kriegsparteien zu Verhandlungen auf
Angesichts der vielen bewaffneten Konflikte rund um die Welt hat Papst Franziskus zu Lösungen am Verhandlungstisch aufgerufen. «Bitte, alle Länder im Krieg: Beendet den Krieg. Bemüht Euch um Verhandlungen. Bemüht Euch um Frieden», sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche in einem am Mittwochabend ausgestrahlten Interview des US-Fernsehsenders CBS. «Ein ausgehandelter Frieden ist besser als ein Krieg ohne Ende.» Auf die Frage, ob er selbst als Vermittler in Konflikten zur Verfügung stehe, antwortete der 87-Jährige: «Ich kann beten. Das mache ich. Ich bete viel.»
Franziskus ging nicht direkt auf die Frage ein, ob er nach mehr als zwei Jahren Krieg in der Ukraine eine Botschaft für den russischen Präsidenten Wladimir Putin habe. Stattdessen antwortete er mit dem allgemeinen Appell. Vergangenen Monat hatte Franziskus mit einem anderen TV-Interview in der Ukraine für erhebliche Verärgerung gesorgt. Damals empfahl er, über ein Hissen der «weißen Fahne» nachzudenken - in Kriegszeiten allgemein das Zeichen für Kapitulation. Der Vatikan versucht seit längerer Zeit ohne großen Erfolg, zwischen Kiew und Moskau zu vermitteln.