Schon letzte Woche haben wir im "Tatort: Querschläger" mit dem Täter sympathisiert. Auch diese Woche fiebert der Zuschauer im "Polizeiruf 110: Die Lüge, die wir Zukunft nennen" (Sonntag, den 8. Dezember, 20.15 Uhr im Ersten) mit den Kriminellen mit. Dies ist kein Krimi im klassischen Sinne, sondern ein gelungenes komplexes Szenario mit einer Polizeioberkommissarin, die so grundverschieden von den bisherigen Ermittlern ist.
Die Firma SPE steht im Verdacht an der Börse illegalen Insiderhandel zu betreiben. Elisabeth Eyckhoff (Verena Altenberger) und ihre Kollegen sollen den Geschäftsführer Reiko Fastnacht (Michael Zittel) bespitzeln. Ein Gespräch mit dessen Tochter Arlena (Emma Jane) liefert Hinweise auf den korrupten Aktienhandel. Die Polizisten können der Versuchung nicht wiederstehen und wollen aus den Mitschnitten selbst Profit schlagen. Schließlich kann jeder von ihnen dringend Geld gebrauchen: Meryem Chouaki (Berivan Kaya) ist alleinerziehend. Sie hat, weil sie nicht verheiratet ist, bei der Polizei keine Aufstiegschancen mehr. Zudem steigt sie mit ihrem Kollegen Wolfgang Maurer (Andreas Bittl) ins Bett. Und das, obwohl er alles für seinen Sohn und seine Frau tun würde. Tobias Rast (Dimitri Abold) lebt im Hotel und arbeitet nebenbei verbotenerweise für einen Escortservice. Roman Blöchl (Robert Sigl) ist seit 35 Jahren IT-Spezialist und lebt in Scheidung.
Der Ex-Scharfschütze Calli (Sascha Maaz), der in Frührente lebt, kümmert sich für die gesamte Truppe um den Kauf der Aktien. Doch nachdem der Kurs zunächst in die Höhe schießt, setzt die Börsenaufsichtsbehörde den Handel aus. Was für eine Katastrophe für die Polizisten!
Ausgerechnet Bessy, die sich als einzige aus dem Aktienkauf heraus gehalten hat, soll gemeinsam mit dem Bankenaufseher Lukas Posse (Wolf Danny Homann) die Kollegen überführen. Sie steckt in einem moralischen Dilemma. Und plötzlich geraten die Cops in dieser Ausnahmesituation so aneinander, dass sogar einer mit dem Leben zahlen muss.
Schauspieler Robert Sigl, der hier den IT-Spezialisten darstellt, hat sich in erster Linie einen Namen als Regisseur gemacht und war auch schon an einigen "Tatorten" beteiligt. Er drehte mit Hollywood-Star Malcolm McDowell die Science-Fiction-Serie "Lexx – The Dark Zone". Er inszeniert demnächst mit der britischen Sängerin Samantha Fox und Charlotte Milchard die Serie "A Study in Red Trilogy" und führt auch bei diversen Horrorfilmen, die er selbst geschrieben hat, Regie.
Andreas Bittl, der auch schon im vorherigen Münchner "Polizeiruf 110" den Polizisten Wolfgang Maurer darstellte, hatte im "Forsthaus Falkenau" eine wiederkehrende Serienrolle als Grafenauer Revierförster Dietmar Bremer.
Der zehnfache Grimme-Preisträger Dominik Graf hat schon diverse preisgekrönte "Tatorte" und "Polizeirufe" gedreht.
Dieser "Polizeiruf" trägt eindeutig die Handschrift der Regisseurs Dominik Graf. Er ist dicht und komplex inszeniert. Am Anfang wirken die vielen Charaktere verwirrend, doch je besser der Zuschauer sie kennenlernt, desto glaubhafter und interessanter wird diese sympathische Polizeitruppe. Allen voran natürlich Bessy! Ihr Wortwitz, das kernige, emanzipierte Auftreten liefern frischen Wind in der Krimilandschaft. Lassen die Kollegen sie nicht zur Tür rein, schlägt sie kurzerhand ein Fenster ein, will sie Sex, nimmt sie sich den und gleichzeitig bleibt sie immer kollegial. Verena Altenberger stellt die neue Ermittlerin charmant und frech zugleich dar.
Dazu schlagkräftige, moderne oder auch kreative Dialoge ("Meine Kehle ist trockener als der Flip-Flop von Mahatma Ghandi"). Die richtigen Fragen nach Moral, Gier und Kameradschaft machen den Fall zusätzlich interessant. Ein rundum gelungener, aber eben kein typischer Sonntagabend-Krimi - mit einem überraschenden Ende.