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Suche nach sagenumwobenem Rungholt an der Nordsee

Der Name Rungholt beflügelt seit Jahrhunderten die Fantasie. Eine verheerende Sturmflut riss den Handelsort einst in die Nordsee. Die Suche nach Spuren im Watt ist spannend.
Rungholt
Ruth Blankenfeldt, Archäologin vom Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie, hält ein Schmuckstück in der Hand. © Frank Molter/dpa

Das Auge sieht nichts als Watt. Doch nur einen halben Meter unter der Oberfläche haben Forschende vor Nordstrand die Umrisse der hochmittelalterlichen Kirche des sagenumwobenen, in der Nordsee untergegangenen Rungholt lokalisiert. Gut ein Jahr nach ihrer Entdeckung arbeiten sie an diesem Frühlingstag erneut im Watt nahe Hallig Südfall. Wie groß das mittelalterliche Gotteshaus gewesen ist, wird anschaulich als sich das aus knapp 20 Männern und Frauen bestehende Team entlang der Umrisse positioniert. Das Gotteshaus maß 40 mal 15 Meter und bot vielen Gläubigen Platz.

Archäologe Bente Sven Majchczack vom Exzellenzcluster Roots der Kieler Christian-Albrechts-Universität begutachtet einen kleinen Schacht, den Kollegen am einen Ende der Kirche gegraben haben. Das Watt ist für die Wissenschaftler vor allem wegen seiner Erhaltungsbedingungen interessant. «Wir sehen hier einen Ausschnitt von einer mittelalterlichen Kulturlandschaft, die sozusagen eingefroren ist und später nicht mehr überprägt wurde», sagt Majchczack. Im Gegensatz dazu seien Kulturlandschaften auf dem heutigen Festland über die Jahrhunderte weiter bearbeitet worden. «Im Watt haben wir sozusagen ein eingefrorenes Foto.»

Rungholt war im ausgehenden Mittelalter eine Siedlung im schleswig-holsteinischen Wattenmeer nahe Nordstrand und der Hallig Südfall. Der Handelsplatz fiel 1362 einer verheerenden Sturmflut zum Opfer, der «Groten Mandränke». Sie gilt als Geburtsstunde Nordfrieslands in seiner heutigen Form. 

Die Sturmflut trennte Halbinseln vom Festland und verpasste der damaligen Insel Strand einen Keil. Die wurde dann 1634 bei einer weiteren schweren Flut endgültig zerschlagen. «Seitdem gibt es dort die Insel Pellworm, die heutige Halbinsel Nordstrand und die Hallig Nordstrandischmoor», sagt Majchczack. Das seien mehr oder weniger Überbleibsel der einstigen Insel Strand. Der Rest sei heute Wattenmeer.

Die Forschungsarbeit ist ein Gemeinschaftsprojekt des Archäologischen Landesamts, des Zentrums für Baltische und Skandinavische Archäologie sowie der Kieler und der Mainzer Universität. Das Team untersucht ein mehr als zehn Quadratkilometer großes Areal im Watt. Seit dem vergangenen Jahr wurden dort mit Hilfe geophysikalischer Messungen Dutzende mittelalterliche Wohnhügel gefunden, sogenannte Warften. Warften existieren noch heute auf Halligen. Aber auch systematische Entwässerungssysteme, ein Deich sowie ein Hafen wurden entdeckt. 

Weniger Meter neben dem Archäologen greift seine Kollegin Ruth Blankenfeldt vom Leibniz Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie zur Schaufel. «Wir haben inzwischen lange Warftketten gefunden, also diese künstlich aufgeschütteten Wohnhügel, auf denen man gewohnt hat», sagt die Archäologin. 

Doch wie groß war der sagenumwobene Ort wirklich? «Wir wissen, der Ort war groß, es haben hier viele Menschen gewohnt», sagt die Forscherin. In dem Bereich des Watts seien nicht nur einheimische Sachen gefunden worden, sondern auch Gegenstände aus der Ferne. «Wir haben kleine Gewichte und Wagen gefunden. Das heißt, hier wurde Handel betrieben. Wir bekommen allmählich eine Idee von der Dimension.»

Wie groß war die mittelalterliche Siedlung?

Einen großen Stadtkern darf man sich wohl aber nicht ausmalen. «Die Vorstellung, dass das ein Ort gewesen ist mit 2000 Einwohnern oder mehr wie in einer mittelalterlichen Stadt, das ist einfach Quatsch», sagt ihr Kollege Majchczack. Stattdessen habe es sich um Wohnhügel in einer Moorlandschaft gehandelt. «Sie haben ganze Dörfer auf dieses Moor gebaut in Reihen und von dort aus systematisch die Landschaft erschlossen. Das Moor wurde abgetragen, entwässert und eine landwirtschaftliche Nutzfläche daraus gemacht.» 

Bisherige Funde legten die Vermutung nahe, dass dort schätzungsweise rund 1000 Menschen lebten. Blankenfeldt betont: «Wir haben den Handel, wir haben Menschen aus unterschiedlichen Ländern, die hier hinkommen. Es ist alles vorhanden, was man mit einem normalen Handelsplatz in Verbindung bringt.» 

Die Kirche war der Mittelpunkt des Siedlungsgefüges vor Nordstrand. Das Forschungsteam geht aufgrund ihrer Größe davon aus, dass es sich um ein damaliges Kirchspiel mit übergeordneter Funktion handeln muss, das mit dem bei der Sturmflut von 1362 zerstörten Verwaltungsbezirk Edomsharde in Verbindung gebracht wird. Auch der später mythologisch überhöhte Ort Rungholt gehörte nach ihren Erkenntnissen dazu. Das erst im Mai lokalisierte Gebäude war demnach eine Hauptkirche der Edomsharde.

Die Marcellusflut von 1362 markierte das Nutzungsende der im 12. Jahrhundert gebauten romanischen Kirche. «Wir kennen das ganz genau von späteren Sturmfluten. Solche Sachen sind immer eine schrittweise Aufgabe, ein schrittweiser Rückzug», sagt Majchczack. «Die eine Sturmflut, die durchbricht dann vielleicht die Deiche, es kommt zu schweren Überschwemmungen, viele, viele Menschen sterben und dann kommt der Tag danach.» 

In manchen Bereichen sei es den Rungholtern gelungen, Deichlücken nach der verheerenden Flut wieder zu schließen, in anderen jedoch nicht. «Wir haben gute Indikatoren, dass dieser Bereich, wo wir gerade sind, damals schon unter dem Meeresspiegel lag.»

In dem Schacht an einem Kirchenrund kommen die Grabenden derweil voran. Nur etwa einen halben Meter unterhalb der Wattoberfläche wechselt die Farbe des Untergrunds vom typischen Grau zu einem roten Ton. Die Forschenden sind sicher, dass es sich dabei um das Fundament der einstigen Kirche handelt. Bei den Arbeiten gehe es darum, trotz nur wenig verbliebenem Material noch ein vollständiges Bild von der Siedlungslandschaft zu bekommen, sagt der Geophysiker Dennis Wilken von der Uni Kiel. «Man kratzt hier die letzten Informationen aus dem Boden, die man noch haben kann - im wahrsten Sinne des Wortes.»

Noch bis 2025 forscht das Team

An einer anderen Stelle im Watt nimmt Geographin Hanna Hadler von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Sedimentproben. Mit mächtig Lärm treibt eine Maschine Rohre ins Watt. «An dieser Stelle bohren wir jetzt gerade durch das Kirchenfundament durch», sagt Hadler. «Alles, was uns interessiert, ist in zwei bis drei Metern Tiefe.» Überbleibsel aus der Zeit des Kirchbaus lägen nicht weit unter der Oberfläche. Es gebe etwa Hinweise, dass das Land durch den Torfabbau tiefer gelegt wurde. «Und Sturmfluten so ein leichteres Spiel hatten.»

Ihr Kollege Majchczack ergänzt, dass von der Kirche sind tatsächlich Fundamentgräben erhalten seien. Diese seien mit Muschelschill verfüllt worden, der vor allem aus Muschelschalen sowie Bruchstücken bestehe und ein wenig aussehe wie Ziegelstein. «Mauerstücke der Kirche selbst sind leider nicht mehr vorhanden.» 

In Sichtweite der Bohrungen nimmt parallel ein Team um die Geophysikerin Sarah Bäumler geophysikalische Untersuchungen vor. Im Abstand von 20 Metern ziehen zwei Studentinnen eine Apparatur durch den Schlick. Sie erfasst und stellt ganze Siedlungen komplett dar - ganz ohne Grabung. «Wir sehen in unseren Messbildern die Warften, die Wege, die ganzen Entwässerungsgräben, also die Feldfluren und die Dörfer, wie die Landschaft strukturiert ist», sagt Majchczack. «Wir sehen teilweise sogar sehr tiefe Abdrücke und Fundamentierungen von großen Gebäuden. Dadurch kriegen wir jetzt ein vollständiges Bild.»

Insgesamt haben die Wissenschaftler in diesem Frühjahr 19 weitere, bislang unbekannte mittelalterliche Warften entdeckt. «Damit hat sich die Zahl der uns bekannten, im Mittelalter untergegangenen Wohnplätze in diesem Gebiet deutlich erhöht. Wir konnten eine entscheidende Lücke im Wissen über die damalige Siedlungsstruktur schließen», sagt Bäumler. 

Seit 2017 wiesen Forschende bereits 73 Warften, systematische Entwässerungssysteme, einen Seedeich mit Sielhafen und neben der großen Hauptkirche auch zwei kleinere nach. «Das heutige Watt war damals großflächig dicht besiedelt», sagt Archäologin Blankenfeldt.

Für ihren Kollegen Majchczack ist die untergegangene Siedlung aus dem Wattenmeer auch eine Mahnung. «Wenn man hier lebt in dieser Landschaft, dann muss man sich wirklich darum kümmern, dass hier alles passt mit dem Meer, mit dem Sturm und den Gezeiten. Das Problem ist ja heute das Gleiche wie vor 800 Jahren.»

© dpa ⁄ André Klohn (Text) und Frank Molter (Fotos und Video), dpa
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