Lennard Kämna ist nur in den ersten Minuten skeptisch. «Dann habe ich gemerkt, es fühlt sich normal an. Ich habe keine Angst im Straßenverkehr, ich habe keine Angst in der Abfahrt. Das hat mich in diesem Moment richtig glücklich gemacht», sagt Deutschlands bester Radprofi im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Wenn der Bremer über die erste Ausfahrt nach seinem schweren Unfall redet, ist seine Begeisterung fast greifbar. «Es war auch ein richtig geiles Gefühl, ich war richtig euphorisch», betont Kämna. Ein Comeback noch in diesem Jahr? Er ist der «festen Überzeugung, dass ich mir in diesem Jahr noch eine Nummer an den Rücken machen werde».
Den wohl dunkelsten Tag seiner Karriere kennt Kämna dagegen nur aus Erzählungen. Am 3. April ist er auf Teneriffa, bereitet sich auf den Giro d'Italia vor. Eine neue Leistungsgrenze habe er erreicht, berichtet Kämna. Doch dann war da diese eine Abfahrt, dann war da dieser eine Autofahrer, der Kämna schlicht übersah. Zusammenprall, Knochenbrüche, Thoraxtrauma, Lungenprellung, Operationen.
Erinnerungen vermischen sich
Erinnerungen daran hat er nicht. «Ich weiß weder, wie die Abfahrt losging, noch wie ich ins Krankenhaus gekommen bin. Ich war zwar immer bei Bewusstsein, bin aber auch ziemlich auf den Kopf gefallen. Das war sicherlich nicht hilfreich», sagt Kämna. Die ersten Tage im Krankenhaus sind ihm noch ein wenig zugegen, doch mittlerweile vermischen sich auch die Wahrnehmungen.
Das Thema ist ohnehin abgehakt. Kämna möchte nach vorn blicken, sich auf das freuen, was in seiner Karriere noch kommt. Es soll ein Neuanfang werden. Dafür hat er sich auch einen neuen Arbeitgeber gesucht. Dem Vernehmen nach wird es Lidl-Trek, reden darf Kämna darüber laut Reglement frühestens vom 1. August an.
Aktuell kann er allerdings darüber reden, warum es für ihn bei Red Bull nicht weitergeht. Schließlich verbrachte er dort fünf erfolgreiche Jahre, gewann Etappen bei der Tour de France, dem Giro und der spanischen Vuelta. Das können nicht viele deutsche Profis von sich behauptet.
Fokus auf Rundfahrt-Klassement
Dennoch war es Zeit für einen Wechsel, für den sich Kämna übrigens erst nach dem Unfall entschied. «Das Team hat mir viel gegeben, und ich konnte dem Team viel geben. Aber man muss auch schauen, wie meine Rolle gesehen wird und wie es andere Teams tun», sagt der Radprofi. Da gab es ganz offensichtlich unterschiedliche Auffassungen. Kämna würde die großen Rundfahrten gern auf Klassement fahren, der Rennstall sah ihn eher als Etappenjäger.
Für alle Seiten zufriedenstellend lief es offenbar nach dem Unfall nicht. Die Gespräche über einen neuen Vertrag wurden ausgesetzt. Ob das ebenfalls ein Grund für seinen Weggang ist, lässt Kämna offen. «Ralph Denk (Teamchef, d.Red.) hat ja gesagt, dass die Verhandlungen nach dem Unfall auf Eis gelegt wurden. Und wenn die Reha in die richtige Richtung läuft, er mit mir zu verlängern beabsichtigt. Das lasse ich jetzt mal so stehen», sagt Kämna.
Zu konkreten Verhandlungen ist es nach dpa-Informationen nie gekommen. «Lennard hat sich für etwas anderes entschieden. Ich bin da persönlich nicht böse. Wir haben tolle Erfolge gefeiert, haben Hochs und Tiefs durchlebt», sagt Denk.
Ziel Tour-Teilnahme
Auch, wenn er gerade auf dem Weg zurück zu alter Stärke ist, der Unfall hat die Karriereplanung des Norddeutschen durcheinander gebracht. Die kommende Saison könnte ein Aufbaujahr werden, je nachdem, wie schnell Kämna sein Niveau wieder erreichen kann. Ein großes Ziel hat er: Im nächsten Jahr bei der Tour de France zu sein. «In welcher Rolle kann ich gerade schwer sagen, das war vor dem Unfall einfacher», sagt Kämna.
Langfristig möchte er wieder bei einer der drei großen Rundfahrten auf Gesamtwertung fahren. Anschauungsunterricht dafür gibt es aktuell bei der Tour, wo Tadej Pogacar teilweise außerirdische Leistungen zeigt. «Da muss man ehrlich sein. Ich glaube nicht, dass ich in der Lage bin, bei Pogacars Pace mitzufahren», meint Kämna. «Was er beim Giro gezeigt hat und jetzt bei der Tour, das ist absolut außergewöhnlich. Das ist phänomenal, da kommt aktuell keiner ran.» Irgendwann will er auch wieder phänomenal sein.