Die riesige türkische Gemeinde in Berlin hofft auf ein Fußballfest, das Überraschungsteam auf den größten Erfolg seit 16 Jahren - doch die Wolfsgruß-Debatte wirft einen tiefen Schatten auf den Sport. Die Zwei-Spiele-Sperre für Merih Demiral, der spontane Besuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und ein brisanter Aufruf der türkischen Ultras heizen das laut Polizei «Nonplusultra-Hochrisikospiel» im EM-Viertelfinale am Samstag (21.00 Uhr/RTL und MagentaTV) zwischen der Türkei und den Niederlanden zusätzlich an. Und Erdogan reist nicht gerade als Vermittler an.
«Sagt jemand etwas darüber, dass auf den Trikots der Deutschen ein Adler ist? Sagt jemand etwas darüber, dass auf den Trikots der Franzosen ein Hahn ist und warum sie sich wie Hähne aufspielen?», sagte Erdogan laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Demiral habe mit dem Wolfsgruß lediglich seine «Begeisterung» gezeigt. «Hoffentlich ist die ganze Sache am Samstag erledigt», ergänzte der 70-Jährige, «wenn wir das Spielfeld als Sieger verlassen und in die nächste Runde einziehen».
Als «Skandal» bezeichnete der türkische Sender TRT die Entscheidung der Europäischen Fußball-Union von Freitag, Demiral für zwei Spiele zu sperren. Ein Kommentator des Senders Habertürk sprach gar von einer «rassistisch» motivierten Entscheidung. Der Hashtag #BeFairUEFA eroberte auf der Plattform X kurz nach Bekanntwerden der Nachricht in Deutschland und weltweit den Spitzenplatz.
Cas-Einspruch nicht möglich
Die UEFA begründete ihrerseits, der Abwehrspieler habe «die allgemeinen Verhaltensgrundsätze nicht eingehalten, die grundlegenden Regeln des guten Benehmens verletzt, Sportereignisse für Kundgebungen nicht-sportlicher Art genutzt und den Fußballsport in Verruf gebracht».
Ein Einspruch vor dem Internationalen Sportgerichtshof Cas ist bei einer Sperre bis zu zwei Spielen gemäß Artikel 63.1.b der UEFA-Statuten nicht möglich. Somit wird der Innenverteidiger gegen die Niederlande und auch in einem möglichen Halbfinale fehlen. «Aber das wird unseren Stolz nicht dämmen», kündigte Trainer Vincenzo Montella an: «Wir werden sogar noch leidenschaftlicher und stolzer sein.»
Der 26 Jahre alte Demiral hatte beim 2:1 im Achtelfinale gegen Österreich nach seinem zweiten Tor in Leipzig mit beiden Händen das Handzeichen und Symbol der «Grauen Wölfe» geformt und damit für viel Empörung gesorgt. Als «Graue Wölfe» werden die Anhänger der rechtsextremistischen «Ülkücü-Bewegung» bezeichnet, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird.
Ehefrau betont: «Mein Mann ist kein Rassist!»
Der große politische Druck aus der Türkei, das laut Medien 30-seitige Verteidigungspapier und auch das vehemente Fürsprechen von Ehefrau Heidi Demiral («Mein Mann ist kein Rassist!») haben zunächst nichts genutzt. Das türkische Außenministerium hatte allein schon die UEFA-Untersuchung als inakzeptabel bezeichnet.
Nicht jede Person, die das Zeichen zeige, könne als rechtsextremistisch bezeichnet werden. Ähnlich argumentieren nun türkische Fußball-Ultras, die auf der Plattform X die Fans im Berliner Olympiastadion zum Zeigen des Wolfsgrußes während der Nationalhymne aufgefordert haben.
Die Augen werden dann auch auf Erdogan gerichtet sein. Berichten zufolge ist sein Besuch auch eine Reaktion auf die Debatte in Deutschland, in der ein Verbot der «Grauen Wölfe» gefordert wurde. Ein Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist nach Angaben aus dem Kanzleramt nicht geplant.
Das Sportliche ist fast komplett in den Hintergrund gedrängt. Auch die Vorfreude unter den rund 200.000 in Berlin lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln wurde etwas geschmälert. Das sei «wirklich sehr bedauerlich», sagte Vorstandssprecher Safter Çinar vom Türkischen Bund in Berlin-Brandenburg (TBB) der Deutschen Presse-Agentur. Er kritisierte deswegen auch Demiral. «Was der Junge gemacht hat», sagte er, sei «natürlich Unsinn».
Polizei ist gewappnet
Der Wirbel um Demiral und der Erdogan-Besuch ändere wenig am Polizei-Aufkommen, sagte Benjamin Jendro, Sprecher der Gewerkschaft der Polizei Berlin: «Wir rufen eh schon alles in den Dienst, was laufen kann.» Das Viertelfinale nannte er ein «Nonplusultra-Hochrisikospiel», rund 3000 Beamte dürften im Einsatz sein.
Bei einem Sieg werden die Fans des von Vincenzo Montella trainierten Teams wieder zu Tausenden den Breitscheidplatz, den Ku'damm sowie große Straßen in Kreuzberg und Neukölln stürmen und den ersten EM-Halbfinaleinzug seit 2008 mit Hupkonzerten und Feuerwerk feiern. In Berlin sei die Unterstützung «noch eine Nummer größer», sagte Kapitän Hakan Calhanoglu.
Türkisches Heimspiel oder Oranje-Party?
Schon beim Länderspiel im vergangenen November gegen Deutschland (3:2) hatten türkische Fans im Olympiastadion eine Heimspiel-Atmosphäre verbreitet. «Hoffentlich gewinnen wir wieder und machen unsere Leute und unser Land glücklich. Das ist unser größter Traum», sagte Calhanoglu, der nach abgesessener Gelbsperre ins Team zurückkehrt.
Auch die Niederlande werden mit tausenden feierfreudigen Fans in Berlin erwartet. Nach dem dominanten Auftritt im Achtelfinale gegen Rumänien (3:0) wollen Cody Gakpo, Xavi Simons und Co. dafür sorgen, dass sich die Oranje-Party in Deutschland fortsetzt. «Solche Leistungen brauchen wir, um eine Chance zu haben, weiterzukommen», sagte Trainer Ronald Koeman, der beim EM-Titel 1988 in Deutschland als Spieler dabei war.