Draußen vor dem Gerichtssaal herrschen enorme Sicherheitsvorkehrungen, Besucher werden mehrfach abgetastet, dürfen keine Gegenstände mit in den Saal nehmen, Dutzende Beamte sichern den Prozessauftakt. Drinnen fühlen sich die jungen Angeklagten sicher, sie verstecken ihre Gesichter nicht hinter Aktendeckeln oder Zeitungen, sondern schauen offen ins Publikum. Dort winken ihnen einige junge Männer zu, recken aufmunternd die Daumen: Vor dem Stuttgarter Landgericht hat ein weiterer Prozess um die Gewaltserie zwischen zwei rivalisierenden Banden in der Region begonnen.
Drei junge Männer müssen sich vor dem Gericht verantworten. Zwei von ihnen wirft die Staatsanwaltschaft versuchten Mord vor, sie sollen auf einen 34-jährigen Rivalen geschossen haben. Einer soll die mutmaßliche Tatwaffe später entsorgt haben und ist wegen Strafvereitelung angeklagt. Alle drei schwiegen am ersten Verhandlungstag.
Die Schüsse werden der Gewaltserie zwischen zwei rivalisierenden Banden in der Region Stuttgart zugerechnet, die die Ermittler seit vielen Monaten beschäftigt. Die mutmaßlichen Täter ordnet die Staatsanwaltschaft einer Gruppe aus dem Raum Esslingen zu, das Opfer soll eine Führungsperson der rivalisierenden Gruppe aus Zuffenhausen gewesen sein.
Staatsanwaltschaft: Opfer wurde vom Angriff überrascht
Ein 22 Jahre alter Deutscher soll aus Sicht der Staatsanwaltschaft im März 2023 auf den 34 Jahre alten Mann mit türkischer Staatsangehörigkeit geschossen haben, um ihn zu töten. Das Opfer sei von dem Angriff vor einer Gaststätte im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen überrascht worden und habe keine Möglichkeit mehr zur Gegenwehr gehabt, sagte der Staatsanwalt bei der Verlesung der Anklage.
Durch die Kugeln sei der Mann an Beinen und Rumpf getroffen und lebensgefährlich verletzt worden. Er habe mehrfach reanimiert werden müssen, zudem habe es mehrere Notoperationen gebraucht, um ihm das Leben zu retten. Das Opfer sei seither vom Hals abwärts querschnittsgelähmt und an den Rollstuhl gebunden.
Als Mitglieder der Gruppe des Opfers auf die Angreifer schossen, soll ein 21-jähriger Deutscher mindestens dreimal in deren Richtung gefeuert haben, so der Staatsanwalt. Er ist ebenfalls wegen versuchten Mordes angeklagt. Ein 21 Jahre alter Türke muss sich wegen Strafvereitelung verantworten. Er soll nach der Tat die Waffe des 22-Jährigen zerstört und in einem Wald vergraben haben.
Verteidiger: Keine Chance mehr auf rechtsstaatliches Verfahren
Die Verteidiger des 21-jährigen Deutschen übten am ersten Verhandlungstag massive Kritik an den Methoden der Ermittler und forderten die Einstellung des Verfahrens. Ihr Mandat sei so stark in seinen Rechten verletzt worden, dass er keine Chance mehr auf ein rechtsstaatliches Verfahren habe, sagte einer der beiden Verteidiger.
Die Anwälte kritisierten, dass ihr Mandat in der Untersuchungshaft einer «Totalüberwachung» ausgesetzt gewesen sei und über mehrere Wochen fast rund um die Uhr abgehört worden sei. Die bei der Abhörung erlangten Ermittlungsergebnisse dürften im Prozess nicht verwendet werden, forderten die Verteidiger. Dem Antrag schlossen sich auch die Verteidiger der anderen beiden Angeklagten an. Das Gericht muss darüber nun entscheiden.
Der Staatsanwalt wies die Forderung zurück und verwies auf vergleichbare Fälle, in denen der Bundesgerichtshof in einer Zelle abgehörte Gespräche als verwertbar eingestuft habe. Zudem habe der 21-Jährige seine Äußerungen nicht nur in stillen Gesprächen in der Zelle getätigt, sondern teils laut in den Hof der Justizvollzugsanstalt gerufen, um sich mit Insassen in der Nachbarzelle zu unterhalten.
Die blutige Fehde der zwei gewaltbereiten, multiethnischen Gruppen hatte die Region Stuttgart seit Mitte 2022 erschüttert. Immer wieder fielen Schüsse. Höhepunkt der Auseinandersetzungen war bislang der Anschlag mit einer Handgranate auf eine Trauergemeinde in Altbach (Kreis Esslingen).
Gewalt eskaliert durch Ehrverletzungen
Nach einer früheren Schätzung des Landeskriminalamts (LKA) gehörten den Gruppen einst mehr als 500 junge Menschen als Unterstützer, Mitläufer oder auch Führungspersonal an. Die Motive hinter der Bandenkriminalität sind weiterhin schwer fassbar und von Tatverdächtigen ist kein Entgegenkommen zu erwarten.
Laut Landeskriminalamt handelt es sich nicht um familiäre Clans oder um klassische Bandenkriminalität, sondern um ein neues und vorerst auch nicht einfach aus der Welt zu schaffendes Phänomen.
Die Gewalt sei nach zumeist wechselseitigen Ehrverletzungen eskaliert, es gehe um territoriale Machtansprüche und das Motto «Crime as a Lifestyle» («Verbrechen als Lebensstil»), mit dem sich viele in den Gruppen stark identifizierten, sagte der Präsident des LKA, Andreas Stenger, kürzlich im Innenausschuss des baden-württembergischen Landtags in Stuttgart. In den vergangenen Monaten nahm die Zahl der zumeist blutigen Zwischenfälle in der Fehde allerdings deutlich ab.
Aus Sicht von Innenminister Thomas Strobl sind die verfeindeten Gruppen nach Tausenden Kontrollen und Dutzenden Festnahmen in ihren Strukturen erschüttert worden. «Sie breiten sich nicht aus, sondern wir haben sie durch harte Schläge entscheidend geschwächt», sagte der CDU-Minister jüngst im Innenausschuss.