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100 Jahre «Der Zauberberg» - Mit Hans Castorp durch Davos

Am 20. November 1924 erschien Thomas Manns epochaler Roman. Sein Titel ist zum Kosenamen des Schweizer Luftkurortes geworden. Lebt der Mythos auch ein Jahrhundert später? Eine Spurensuche vor Ort.
Das «Berghotel Schatzalp» in Davos
Erstauflage von «Der Zauberberg»
Tresen im «Berghotel Schatzalp»
Salon im «Berghotel Schatzalp»
Speisesaal im «Berghotel Schatzalp»
Paulo Bernardo
Marietta Zürcher
Nachgestelltes Sanatoriumszimmer im «Waldhotel»
Zigarre im «Berghotel Schatzalp»
Seitenansicht vom «Berghotel Schatzalp»
Skilehrer Beat Däscher
Bergpanorama mit kleiner Berghuette in der Schatzalp bei Davos in
Bergpanorama mit verschneiten Tannen und Kondensstreifen
Die «X-Ray Bar» im «Berghotel Schatzalp»
Alte Rattanliegen vor dem «Berghotel Schatzalp»
Hoteldirektor Benjamin Schibli
Davos und der Zauberberg

Seit einem Vierteljahrhundert bin ich Nichtraucher. Jetzt aber muss ich mir eine anzünden. Mit glimmender Zigarre im Mundwinkel liege ich in der Kälte auf dem Balkon von Zimmer 307, in der einst ein gewisser Kurfürst Dimitri Romanow, vormals Partner Coco Chanels, sein Lungenleiden vergeblich auszukurieren versuchte - das aber nur am Rande.

Eigentlich will ich mich fühlen wie ein Sanatoriumsgast im frühen 20. Jahrhundert, ohne krank zu sein. Oder so wie der Zigarren verehrende Hans Castorp, Protagonist in Thomas Manns Epos «Der Zauberberg», das am 20. November 1924 erstmals erschien.

Castorp bezieht darin Zimmer 34, das im heutigen Berghotel Schatzalp nicht existiert. Eines Nachts begibt Castorp sich zur Liegekur auf den Balkon, bei klirrender Kälte, eingewickelt in eine dicke Decke, wie sie für jeden Patienten - und heute jeden Hotelgast - bereitliegt.

Der epochale Gesellschaftsroman spielt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, in einem der realen Welt entrückten Paralleluniversum in einem Sanatorium in Davos - jenseits «von Denen da unten». Im Zentrum steht der ungefestigte Ingenieur Hans Castorp aus Hamburg, der auf Krankenbesuch ist, um Zeit mit seinem Vetter Joachim Ziemßen zu verbringen. Er plant, einige Wochen zu bleiben. Doch aus seinem Aufenthalt werden Jahre. 

So lange will ich nicht bleiben.

Die ominöse Tür zum Speisesaal

Aber bin ich am richtigen Ort? Geht es um das ideelle Erbe des «Zauberbergs», beanspruchen zwei Hotels, beides ehemalige Sanatorien, Inspirationsquelle für Thomas Mann gewesen zu sein: das Berghotel Schatzalp, dessen Direktor Paulo Bernardo mir zur Begrüßung die Zigarre wissend in die Hand drückt, und das Waldhotel. Als das Haus noch Waldsanatorium hieß, ließ die Frau des Literaturnobelpreisträgers, Katia, dort einen Lungenspitzenkatarrh behandeln. 1912 besuchte Thomas Mann sie dort.

Als nach und nach wirksame Medikamente gegen Tuberkulose aufkamen, wurden die meisten der Sanatorien Davos' in Hotels umgewandelt. Auch im Waldhotel tilgte man die medizinische Vergangenheit bei einer Rundumsanierung 1958. «Man wollte sich von dem Tuberkulose-Image lösen, also überdeckte man fast alle historischen Spuren», sagt Direktorin Marietta Zürcher. Ein zeitgenössisches Sanatoriumszimmer aber wurde wieder eingerichtet, eine Art Mini-Museum mit medizinischem Gerät und «Blauem Heinrich», ein Taschenspucknapf aus gefärbtem Glas. Dann zeigt mir Zürcher die Tür zum Speisesaal.

Diese sei «mit ziemlicher Sicherheit» Inspirationsquelle gewesen: Im Buch lässt Madame Chauchat, eine lässige Dame «im weißen Sweater», die Pforte zum Speisesaal lautstark zufallen, wenn sie spät zu Tisch kommt - und weckt damit den allgemeinen, aber auch Hans' Unmut, der später in tiefe Gefühle übergeht. «Vieles ist fiktiv, aber die Tür ist ziemlich sicher», sagt Zürcher.

Auch Paulo Bernardo vom Schatzalp sieht die wiederkehrende Romanszene klar vor Augen, als er beim Hotelrundgang an der Schwelle zum Speisesaal haltmacht. Stadthistoriker Klaus Bergamin aber sagt, Mann habe solche Details nie genau verortet. «Er hat nie gesagt, genau da oder da spielt eine Szene.» «Berghof» heißt das Sanatorium fiktiv im Roman. An einer Stelle wird jedoch ein entferntes, auf der Schatzalp liegendes Sanatorium genannt. 

Entrückte Atmosphäre

Während im Waldhotel die Medizingeschichte zu touristischen Zwecken reanimiert wird, atmet das Berghotel sie. Wer mit der 1899 eigens für das Sanatorium gebauten Schatzalp-Bahn in die Höhe fährt, sieht bald die blätternde Jugendstilfassade des heutigen Hotels.

«Diese Ruhe, die spüren sie doch auch?», fragt Ida Lohner, ehemalige Gemeindemitarbeiterin in Davos, die ich dort zufällig treffe. Es ist wahr: Die Atmosphäre auf knapp 1.900 Metern ist entrückt - vielleicht besonders zu fühlen, wenn man den Roman gelesen hat und von «Denen da unten» weiß. 

Als Hotelgast isst man mit Besteck, das die Patienten schon vor hundert Jahren benutzten. Die Messinglampen, die Kerzenständer, der Terrazzoboden, vieles im Speisesaal sei original erhalten, sagt Direktor Bernardo. Dort, wo geröntgt wurde - damals, auch von Mann beschrieben, eine neue Medizintechnik - befindet sich heute die «X-Ray Bar» mit beleuchtbaren Wänden, an denen die Mediziner einst die Bilder anschauten.

Die Therapie gegen Tuberkulose, laut Historiker Bergamin zu Manns Zeiten eine verbreitete Volkskrankheit, war die Liegekur im Freien, zu der jeder Patient für mehrere Stunden täglich verdonnert wurde. Man fand sich öffentlich im «Solarium» ein, kurierte privat auf dem Zimmerbalkon oder vor dem Gebäude. «Hier haben sie in Reih und Glied gelegen», sagt Ida Lohner und deutet auf die Schneefläche vor dem imposanten Gebäude, wo Patienten auf Rattanliegen Sonnenbäder nahmen, um Vitamin D als körpereigenes Medikament zu tanken. 

Höhenklima zur Heilung

Es war der Mannheimer Mediziner Alexander Spengler, der das Höhenklima zur Heilung schon im 19. Jahrhundert empfahl. «Er befand die Davoser Luft besser als anderenorts», sagt Bergamin. Auch Kaiser Wilhelm II. hörte vom Luxussanatorium mit elektrischem Licht und Fußbodenheizung auf der Schatzalp. Er ließ sich nicht nur drei Zimmer mit großen Badewannen bestücken, sondern jene von 1905 bis 1918 auch dauerhaft reservieren. Eine Einweisung wurde nie notwendig. 

Die kaiserlichen Wannen lassen sich noch bestaunen, auch der von dunklen Eisengittern umhegte Lift tief im Gebäude, wo die «kalten Abreisen» stattfanden. Verstarb ein Patient, wurde der Sarg mit dem Aufzug zum Hinterausgang befördert, im Winter wurden die Kisten mit den Toten auf offenen Bob-Schlitten weggebracht. Heute kann man sich Holzschlitten ausleihen und die hoteleigene Schlittelbahn ins Tal sausen. 

Im Roman springt Hans Castorp dem Kältetod von der Schippe, als er in einen Schneesturm gerät, in einer Welt, die «den Besucher auf eigene Rechnung und Gefahr» empfing. Er verirrt sich, fährt auf seinen Ski im Kreis, führt im Wahn bei minus 20 Grad Selbstgespräche.

Als ich mich mit Skilehrer Beat Däscher treffe, scheint die Sonne und das Bergpanorama auf dem Weissfluhjoch (2.693 Meter) zeigt sich in schönsten 360 Grad. Däscher hat seinen Skistock gehoben. Irgendwo dort in der einst noch unberührten Hochgebirgswelt verirrte sich der Romanheld und fand schließlich am «Brähmenbühl» zurück ins Dorf. Der Berg Brämabüel (2.492 m) zählt heute zum Skigebiet Jakobshorn. 

Suche nach dem Wasserfall

Thomas Mann benennt Landschaften oft konkret. Gemeinsam mit Nebenbuhler und Lebemann Mynheer Peeperkorn und den Gesinnungs-Kontrahenten Settembrini und Naphta wandert Castorp im Flüelatal zu einem Wasserfall. Im Winter werden im Tal Loipen gezogen, die auch ich unter die Latten nehme. Über 10,6 Kilometer führt die Rundroute ab Davos entlang des Flüelabaches, über Hügel, vorbei an Chalets mit dicken Schneekissen auf dem Dach. Der Bach gluckert. Den Wasserfall finde ich nicht, aber es gibt ihn laut Google Maps.

Eine Wanderung mit Mann-Bezug, wahlweise mit Schneeschuhen im Winter, ist auch die entlang des Schatzalpweges, der auf 2,4 Kilometern die beiden Hotels verbindet. «Der Autor ist ihn zur eigenen Ertüchtigung gelaufen», sagt Historiker Bergamin. «Heute heißt er Thomas-Mann-Weg.»

An der Bergstation der Schatzalp-Bahn schnalle ich die Schneeschuhe unter und laufe den «Wasserfall Rundgang», der sich dem Mann-Weg anschließt. In einem verschneiten Tannenwald setze ich die ersten Spuren des Tages in den Schnee, Eiszapfen hängen glänzend an meterdicken Schneewänden.

Ein Panorama auf die Berge eröffnet sich an einer Lichtung. An einer Holzbank, tief im Weiß versunken, steht ein Schild: Thomas-Mann-Platz. Vielleicht dachte der Schriftsteller an diesen Ort, als er im Roman Castorp und seinen Vetter Joachim oberhalb von Davos auf einer Bank pausieren lässt. Beim Morgenspaziergang begegnen sie dort erstmals gemeinsam dem Humanisten und Freimaurer Settembrini.

Stöbern in alten Gästebüchern

Eine Schlüsselszene, die zur endgültigen Entzweiung von Naphta und Settembrini und der Abmachung zum Pistolenduell führt, spielt im nahen Monstein. Castorp und seine Begleiter erreichen das heute als Ausgangspunkt für Skitouren bekannte Bergdorf im Pferdeschlitten, ich nehme den Postbus.

Das Hotel Ducan diente Mann als das «Kurhaus», wo man im Buch zu Kaffee und Birnenbrot einkehrt - einfache Fremdenzimmer, die er beschreibt, sie gibt es. Dass sein Haus, vormals Curhaus Monstein, in «Der Zauberberg» vorkommt, scheint Direktor Benjamin Schibli bei meiner Ankunft unbekannt. Gemeinsam durchforsten wir alte Gästebücher nach dem Eintrag «Thomas Mann». Vergeblich, das Archiv beginnt erst 1913.

Was es sicher noch nicht gab: die 2001 gegenüber eröffnete Monsteiner Brauerei in einer alten Sennerei, wo freitags offener Stammtisch ist. Der feierlaunige, aber kranke Lebemann Peeperkorn hätte es sicher gemocht. Er lässt im Roman Genever und Veltliner Wein fließen. Diesen erprobte auch der Mediziner Spengler - jedoch für seine Tuberkulose-Therapien.

Wie Mann ein anderes Laster beschreibt, wirkt bemerkenswert. Jemand, der nicht rauche, sagt Hans zu Joachim, bringe sich «um des Lebens bestes (sic!) Teil und jedenfalls um ein ganz eminentes Vergnügen!»

Auf meinem Südbalkon auf der alten Liege nehme ich einen letzten Zug von der Zigarre, morgen ist Abreise. Der Blick auf die dunkle Bergwand gegenüber, er ist wie vor über 100 Jahren. Wenn nur nicht die umher kriechenden Scheinwerfer der piepsenden Pistenraupen diese Ruhe stören würden. 

Links, Tipps, Praktisches:

Reisezeit: Davos im Kanton Graubünden ist ein Ganzjahresziel, die Skilifte sind von Mitte November bis in den April geöffnet. 

Anreise: mit dem Nachtzug (Nightjet der ÖBB) nach Zürich, weiter wie Hans Castorp mit der Bahn bis Davos-Platz (SBB).

Einreise: Es genügt der Personalausweis. 

Unterkunft: Im «Berghotel Schatzalp», das Hotelführungen anbietet, dem «Waldhotel» oder dem «Hotel Ducan». Das Angebot an Unterkünften in Davos ist riesig.

Aktivitäten: Das Skigebiet Schatzalp-Strela hat breite Pisten, etwas für Genussfahrer. Wintersportausrüstung verleihen mehrere Geschäfte. Das Zauberberg-Jubiläum geht 2025 in Feierlichkeiten zum 150. Geburtstag von Thomas Mann über. Nostalgische Kutschfahrten über die Kutschen-Zentrale Davos

Währung: Ein Schweizer Franken entspricht 1,07 Euro (Stand: 07.10.2024)

Weitere Auskünfte: davos.ch

© dpa ⁄ Stefan Weißenborn, dpa
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