In einer Zeit innerer und äußerer Unsicherheiten hat der 21. Deutsche Bundestag seine Arbeit aufgenommen. Die 630 Abgeordneten kamen 30 Tage nach der Bundestagswahl zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Sie wählten die CDU-Politikerin Julia Klöckner mit großer Mehrheit zur neuen Bundestagspräsidentin. Die 52-Jährige rief in ihrer Antrittsrede das Parlament zu «Anstand» und einem «ordentlichen Umgang miteinander» auf.
Auf Klöckner entfielen 382 Ja- und 204 Nein-Stimmen. Es gab 31 Enthaltungen und 5 ungültige Stimmen.
Regierung Scholz nur noch geschäftsführend im Amt
Mit der konstituierenden Sitzung endete nach Artikel 69 des Grundgesetzes die Amtszeit von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und seiner Ministerinnen und Minister. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier überreichte ihnen daher die Entlassungsurkunden und bat sie zugleich, bis zur Ernennung einer neuen Regierung die Amtsgeschäfte weiterzuführen. Dazu sind sie verpflichtet.
AfD-Kandidat fällt als Vizepräsident durch
Der Bundestag bestimmte auch vier Vizepräsidenten, die Klöckner bei ihrer Arbeit unterstützen werden. In das Präsidium gewählt wurden Andrea Lindholz (CSU), Josephine Ortleb (SPD), Omid Nouripour (Grüne) und Bodo Ramelow (Linke). Der AfD-Kandidat Gerold Otten erhielt nicht die nötige Stimmenzahl. Er scheiterte anschließend auch in einem zweiten und dritten Wahlgang.
Klöckner mahnt «zivilisiertes Miteinander» an
Klöckner sagte nach ihrer Wahl: «Den kontroversen Diskurs müssen wir führen, aushalten, ertragen. Nach klaren Regeln und Verfahren und Mehrheiten. Ich werde darauf achten, dass wir ein zivilisiertes Miteinander pflegen.»
Die frühere Bundeslandwirtschaftsministerin ist erst die vierte Frau in diesem Amt, das protokollarisch gleich hinter dem des Bundespräsidenten angesiedelt ist. Ihre Vorgängerinnen waren Annemarie Renger (SPD), Rita Süssmuth (CDU) und Bärbel Bas (SPD).
Klöckner ruft zur Änderung des Wahlrechts auf
Klöckner rief dazu auf, das von der Ampel-Koalition 2023 reformierte Wahlrecht nochmals zu ändern, damit alle direkt gewählten Abgeordneten auch ein Mandat bekommen. Bei der vergangenen Bundestagswahl gingen 23 Kandidatinnen und Kandidaten leer aus.
«Es muss doch möglich sein, das Ziel der Wahlrechtsreform – eine deutliche Verkleinerung des Bundestages – mit einem verständlichen und gerechten Wahlrecht zu verbinden», betonte Klöckner. Das sage sie auch an ihre eigene Fraktion. «Je verständlicher und gerechter ein Wahlsystem empfunden wird, desto größer dessen Akzeptanz in der Bevölkerung.»
Die CDU-Politikerin empfahl den Abgeordneten eine «offene Fehlerkultur». Das könne helfen, verloren gegangenes Vertrauen in die Politik zurückzugewinnen. Klöckner sprach sich für eine Stärkung des Fragerechts im Bundestag aus und rief dazu auf, diesen familienfreundlicher zu machen. Es müssten mehr Frauen in die Politik und in die Parlamente gehen.
Sie mahnte, die Probleme und Sorgen der Bürger aufzugreifen und konkrete Reformen anzupacken. In Deutschland müsse die Stimmung wieder verbessert werden, sagte Klöckner. «Wir brauchen Optimismus und Zuversicht - dieser Optimismus-Ruck muss wieder durch unser Land gehen.»
Alterspräsident Gysi eröffnet die Sitzung
Eröffnet wurde die konstituierende Sitzung durch den Alterspräsidenten Gregor Gysi. Der Linke-Abgeordnete ist der Politiker mit den meisten Jahren im Parlament. Die AfD versuchte vergeblich, zur bis 2017 geltenden Regelung zurückzukommen, nach der der älteste Abgeordnete Alterspräsident wurde. Das wäre diesmal der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland gewesen.
Gysi schlägt Bogen von sicherer Rente bis Donald Trump
Auch Gysi rief die Abgeordneten zu einem respektvollen Umgang miteinander auf. «Ich wünsche unserer Bevölkerung und uns einen lebendigen Bundestag, in dem ohne Beleidigungen, ohne Beschimpfungen, ohne Unfairness durchaus hart gestritten, diskutiert und entschieden wird.»
Inhaltlich schlug der Linke-Politiker in seiner fast 40-minütigen Rede einen verwegenen Bogen von sicheren Renten und Steuergerechtigkeit über Gesundheit und Pflege bis hin zum Krieg in der Ukraine und der Politik von US-Präsident Donald Trump. Er plädierte dafür, für mehrere angesprochene Bereiche unabhängige Gremien einzusetzen. Außerdem regte er an, den 8. Mai, an dem Deutschland 1945 durch die Alliierten von der nationalsozialistischen Diktatur befreit worden war, zum bundesweiten gesetzlichen Feiertag zu machen.
Spätestens als der 77-Jährige über die fünf verschiedenen Steuersätze für Weihnachtsbäume referierte, kam Unruhe im voll besetzten Plenarsaal auf. Bei der Union regte sich während und am Ende der Rede kaum eine Hand zum Beifall für Gysi, aber auch bei SPD und Grünen hielt sich die Begeisterung in Grenzen.
Steinmeier entlässt Regierung Scholz
Bundespräsident Steinmeier rief bei der Entlassung des Kabinetts Scholz im Schloss Bellevue den neuen Bundestag dazu auf, «respektvoll und konstruktiv miteinander zu streiten». Er betonte: «Wir als Demokratinnen und Demokraten müssen bei aller Kontroverse gesprächs- und kompromissfähig bleiben und pfleglich miteinander umgehen - auch um das Vertrauen in unsere Staatsform zu erhalten und um das Bestmögliche für die Bürgerinnen und Bürger zu erreichen.»
Der Bundespräsident würdigte zugleich die Leistungen der 2021 angetretenen Ampel. «Sie als Bundesregierung mussten sehr oft sehr schnell und entschlossen handeln. Sie mussten unbekanntes Terrain begehen und neue Wege suchen», sagte Steinmeier vor allem mit Blick auf den Ukraine-Krieg und die Folgen für Deutschland wie eine unsichere Energieversorgung und hohe Inflation.
Staatssekretärin und Bundesministerin
Klöckner saß schon von 2002 bis 2011 im Bundestag und war seit 2009 auch Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeslandwirtschaftsministerium. Anschließend wechselte sie in die Landespolitik ihrer Heimat Rheinland-Pfalz und versuchte dort zweimal vergeblich, Ministerpräsidentin zu werden.
Bei der Bundestagswahl 2017 meldete sie sich in Berlin zurück und war dann bis 2021 Bundeslandwirtschaftsministerin im Kabinett der damaligen Kanzlerin Angela Merkel (CDU). Die gelernte Journalistin gehörte zwischen 2012 und 2022 zur Riege der stellvertretenden CDU-Vorsitzenden. Im alten Bundestag war sie wirtschaftspolitische Sprecherin der Fraktion.
Leitung der Sitzungen und Vertretung nach außen
Die Aufgaben der Bundestagspräsidentin sind in der Geschäftsordnung genau beschrieben. «Der Präsident vertritt den Bundestag und regelt seine Geschäfte. Er wahrt die Würde und die Rechte des Bundestages, fördert seine Arbeiten, leitet die Verhandlungen gerecht und unparteiisch und wahrt die Ordnung im Hause», heißt es dort unter anderem. Der Präsidentin stehen auch das Hausrecht und die Polizeigewalt in allen Gebäuden des Bundestages zu.
Neues Amt als Herausforderung
Trotz ihrer langen politischen Erfahrung – das neue Amt dürfte zu einer großen Herausforderung für Klöckner werden. Der Umgangston im Bundestag ist seit dem Einzug der AfD 2017 erheblich rüder geworden, wie alle anderen Fraktionen beklagen. Und im neuen Bundestag hat sich die Fraktionsstärke der AfD verdoppelt – was nicht für ruhigere Zeiten spricht.
Spürbar wurde dies bereits in der konstituierenden Sitzung, als Gysi aus den Reihen der AfD-Fraktion als «Galionsfigur der radikalen Linken» bezeichnet wurde und der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner den anderen Fraktionen entgegen schmetterte: «Sie sind die Vergangenheit des alten, ruinierten Deutschlands, wir sind die Zukunft eines blühenden, blauen Deutschlands.»
Auch die Zahl der in der 20. Wahlperiode auf 134 hochgeschnellten Ordnungsrufe verdeutlicht das oft raue Klima. In der 19. Legislaturperiode waren es laut Bundestagsverwaltung nur 49 gewesen. Allein 85 dieser Ordnungsrufe kassierten in den vergangenen drei Jahren Mitglieder der AfD-Fraktion.
Redaktionshinweis: In einer vorherigen Version dieses Artikels hieß es: «In seiner Rolle als Altersparlament». Richtig muss es heißen: «In seiner Rolle als Alterspräsident».