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Putins neue Krise – Kiews Invasion in Kursk setzt Moskau zu

Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg sind ausländische Truppen auf russischem Gebiet. Dabei hatte der Kremlchef seinen Angriffskrieg begonnen, um die Ukraine kleinzukriegen. Wie schlimm ist die Krise?
Russlands Präsident Putin
Ukrainekrieg - Kursk
Ukraine-Krieg - Kursk

Im Gebiet Kursk reißen ukrainische Soldaten russische Flaggen von Gebäuden. Menschen verlassen ihre Häuser, bringen sich bei Verwandten und in Notunterkünften in Sicherheit. Flüchtlinge stehen an, um von Hilfskonvois Essen, Hygieneartikel, humanitäre Unterstützung anzunehmen. Zehntausende sind in Not, seit am 6. August rund 10.000 ukrainische Soldaten in Russland eingefallen sind. 

Doch Kremlchef Wladimir Putin, der gern an den Zweiten Weltkrieg erinnert und besonders auch um die schwere Panzerschlacht von Kursk weiß, tut diese erste Invasion ausländischer Truppen seit damals – vor gut 80 Jahren – bisher nur als eine «Provokation» Kiews ab.

Offiziell herrscht Ausnahmezustand im russischen Grenzgebiet zur Ukraine. Der Kreml hat das Gebiet zur Zone für Anti-Terror-Operationen erklärt, als gäbe es nur ein paar Kämpfer zu beseitigen. Und Putin? Der Präsident gibt sich nach inzwischen 25 Jahren an der Macht – im August 1999 wurde er zunächst Regierungschef -, als könnte ihn nichts mehr erschüttern. Damals begann auch der zweite Tschetschenienkrieg.

Abgesehen von Krisensitzungen, bei denen Putin etwa auch umgerechnet 100 Euro Soforthilfe für Bedürftige anweist, kümmert sich der Kremlchef weiter um Weltpolitik. Bei einem Treffen in Moskau erörtert er mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas die Lage im Nahen Osten. Oder er reist wie gerade eben nach Aserbaidschan zum Staatsbesuch, um bei den Verhandlungen um einen Friedensvertrag des Landes mit Armenien zu vermitteln. 

Das Versagen in Kursk, das Scheitern des für den Grenzschutz zuständigen Inlandsgeheimdienstes, des Generalstabs und der anderen Sicherheitsstrukturen? Darum will sich Putin später kümmern.

Experte: Bloßstellung Putins – Balsam für Kiews Armee

Derweil stärken die ukrainischen Truppen, wie auch russische Militärblogger feststellen, ihre Positionen. Kiew verlagert weiter Waffen und Technik nach Russland. Putin habe hier ein Problem, das ihn viele Monate beschäftigen werde, sagt der US-Militäranalyst Michael Kofman in einem russischen Podcast der Denkfabrik Carnegie mit dem Experten Alexander Baunow. Kofman besuchte die Ukraine immer wieder und meint, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj die Bloßstellung der Armee Moskaus und Putins durch den Überraschungsangriff klar gelungen sei.

Der Erfolg baue die ukrainischen Soldaten nach den Rückschlägen und Gebietsverlusten moralisch auf, sagt Kofman. Die russische Armee habe seit Herbst vorigen Jahres die Initiative gehabt und Hunderte Quadratkilometer in der Ukraine erobert. Nun habe sich das Blatt gewendet. Selenskyj habe auch den Westen überrascht. Immerhin hatte er stets öffentlich erklärt, dass die Lage schlecht sei, die Armee dringend Waffen brauche. Jetzt der Gegenschlag.

Kofman sieht aber das Risiko, dass der Westen vor weiterer Hilfe zurückschrecken könnte, um eine Eskalation zu verhindern. Selenskyjs Bürochef Andrij Jermak, aber auch der Berater Mychajlo Podoljak machten zuletzt deutlich, es müsse nun darum gehen, Russland militärisch zu zerstören, damit das Land nie wieder angreifen könne. Und Podoljak betonte, die Kursk-Offensive zeige, dass niemand sich fürchten müsse vor Russland.

Offene Kritik an der Führung in Moskau

Auch rund zwei Wochen nach Beginn der beispiellosen Bodenoffensive der Ukrainer löst sich die Schockstarre in Moskaus Machtapparat noch immer nur langsam. Viele Russen zeigen sich offen verwundert darüber, dass die ukrainische Armee über die Grenze mir nichts, dir nichts einmarschiert ist.

Selbst linientreue Russen äußern offen ihr Entsetzen. Er könne nicht glauben, dass niemandem die Truppenkonzentration auf ukrainischer Seite und die Gefahr eines Einfalls aufgefallen sein soll, sagt der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow. «Bei uns liebt keiner die Wahrheit in Berichten. Alle wollen nur hören, dass alles gut ist», klagt der General im Ruhestand im Staatsfernsehen.

Experte: Putin hat keine starken Gegner im Land

Der russische Politologe Baunow erklärt in seinem Podcast, dass Putin dennoch keine Gefahr drohe. «Er hat keine Kritiker im Land, keine starken Gegner», sagt Baunow, der im Exil in Berlin arbeitet. Gerade erst hat Putin auch prominente Gegner bei einem Gefangenenaustausch außer Landes bringen lassen – gegen ihren Willen, darunter etwa Ilja Jaschin. Der Oppositionspolitiker hat trotz Inhaftierung in Russland keine Gelegenheit ausgelassen, Putins Krieg als Verbrechen zu kritisieren.

Der Fall Kursk zeige, dass Putins Krieg nicht nur Tod und Zerstörung über die Ukraine, sondern auch über Russland bringe, sagt er. «Unser Land muss einen hohen Preis für sein blutiges Abenteuer bezahlen.» In Russland aber dringen diese Stimmen aus dem Ausland auch wegen der Gleichschaltung von Staatsmedien und Tausender blockierter unabhängiger Medien nicht durch.

Kommentatoren weisen vielmehr darauf hin, dass Putin es immer wieder verstanden habe, auch die größten Krisen für sich zu nutzen. Der Westen nutze die Ukraine als Werkzeug, um am Zerfall Russlands zu arbeiten, sagt Putin. Moskau hält den Konflikt um die Ukraine seit langem für einen Stellvertreterkrieg.

Geht Selenskyj Plan auf?

Auch Baunow erwartet, dass nun viele Russen nicht zuletzt mit Blick auf die westlichen Waffen in Kursk Putins Erzählung mehr denn je glauben, es gehe der Nato, dem Westen in Wahrheit um einen Sieg über Russland. In Kiew hat Selenskyj erklärt, die Offensive laufe nach Plan, er wolle so den Druck auf Russland erhöhen, Verhandlungen aufzunehmen, um den Konflikt zu beenden. Die Russen sollten spüren, was Krieg bedeutet und so zur Besinnung kommen. Aber Baunow meint: «Es führt zu keiner Ernüchterung. Und natürlich lässt sich Russland nicht zu irgendwelchen Verhandlungen zwingen.»

Sein Kollege Alexej Gussew sieht zwar in einer Analyse für Carnegie den Machtapparat gefangen zwischen einer immer wieder erklärten Stabilität im Land und der echten Katastrophe. Die Krise lege einmal offen, was in Russland nicht funktioniert. Die Regionen in Putins System hätten schon bei anderen Lagen wie Hochwasser, bei der Covid-Pandemie gezeigt, dass sie ohne Moskaus Apparat hilflos sind.

Eigeninitiativen auf regionaler Ebene seien nie erwünscht gewesen, weil es schnell den Verdacht gebe, dass politische Konkurrenz heranwachsen könnte, erklärt Gussew. Er erwartet, dass die ohnehin hohe Zustimmung für Putins Krieg durch Selenskyjs Invasion eher noch deutlich zunimmt. Sein Fazit: «Der Einmarsch im Kursker Gebiet und davor schon die Kämpfe im Raum Belgorod führen in politischer Hinsicht dazu, dass diese Regionen zu den "militaristischsten" und am meisten patriotischen und antiukrainischen werden.»

© dpa ⁄ Ulf Mauder, dpa
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