Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) hat Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und gegen den Anführer der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar, beantragt. Das teilte der Gerichtshof in Den Haag mit.
Chefankläger Karim Khan ermittelt seit Monaten wegen mutmaßlicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zuge des Gaza-Krieges. Weitere Haftbefehle sollen die Richter des IStGH Khan zufolge gegen Israels Verteidigungsminister Joav Galant sowie Sinwars Stellvertreter Mohammed Deif und den Hamas-Auslandschef Ismail Hanija verhängen. Beide Seiten reagierten empört auf Khans Anträge. Auch aus den USA kam heftige Kritik.
Den Hamas-Führern wirft der Ankläger unter anderem «Ausrottung» sowie Mord, Geiselnahme, Vergewaltigungen und Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Er forderte die Terrororganisation auf, alle israelischen Geiseln umgehend freizulassen und für die «sichere Rückkehr zu ihren Familien» zu sorgen.
Chefankläger verweist auf humanitäres Völkerrecht
Ministerpräsident Netanjahu und Verteidigungsminister Galant werden von Khan unter anderem beschuldigt, für das Aushungern von Zivilisten als Methode der Kriegsführung sowie für willkürliche Tötungen und zielgerichtete Angriffe auf Zivilisten verantwortlich zu sein. Khan betonte zwar das Recht Israels, seine Bevölkerung gegen alle Angriffe zu verteidigen. Er erklärte jedoch zugleich, dieses Recht entbinde Israel nicht von der Pflicht, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten.
Auslöser des Gaza-Krieges war das beispiellose Massaker mit mehr als 1200 Toten, das Terroristen der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober in Israel verübt hatten. Im folgenden Krieg wurden nach Angaben der Gesundheitsbehörde bisher 35 456 Palästinenser getötet, wobei die unabhängig kaum zu verifizierende Zahl nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterscheidet.
Ob die beantragten Haftbefehle erlassen werden, müssen nun die Richter der Vorverfahrenskammer des IStGH entscheiden. Wenn sie die Tatvorwürfe als bestätigt ansehen, kann das Hauptverfahren gegen die Beschuldigten eingeleitet werden.
Kritik folgte postwendend - von beiden Seiten
Israel kritisierte die Anträge gegen Netanjahu und Galant scharf. Außenminister Israel Katz sprach von einer «skandalösen Entscheidung». Diese stelle «einen frontalen, zügellosen Angriff auf die Opfer des 7. Oktober und unsere 128 Geiseln in Gaza» dar. «Während die Mörder und Vergewaltiger der Hamas Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen unsere Brüder und Schwestern begehen, erwähnt der Chefankläger im gleichen Atemzug unseren Ministerpräsidenten und Verteidigungsminister, neben den verabscheuungswürdigen Nazi-Monstern der Hamas - eine historische Schande, die für immer in Erinnerung bleiben wird», sagte Katz nach Angaben seines Büros.
«Das ist eine vollständige Verzerrung der Realität», sagte Netanjahu am Abend in einer auf der Plattform X veröffentlichten Videobotschaft. Der «absurde» und falsche Antrag richte sich nicht nur gegen ihn und Galant, «er richtet sich gegen den gesamten Staat Israel». Der Antrag sei ein Beispiel eines «neuen Antisemitismus», der von Universitätsgeländen nach Den Haag gezogen sei, sagte Netanjahu mit Anspielung auf die propalästinensischen Proteste an Hochschulen.
Israels Präsident Itzchak Herzog wies den Antrag auf Haftbefehl gegen Netanjahu und Galant ebenfalls als «mehr als empörend» zurück. Der israelische Oppositionsführer Jair Lapid sprach am Montag von einem «völligen moralischen Versagen».
Auch die Abgeordneten der Knesset reagierten mit seltener Geschlossenheit. Der Staat Israel befinde sich in einem gerechten Krieg gegen eine kriminelle Terrororganisation, hieß es in der am Montagabend von 106 der 120 Abgeordneten verabschiedeten Stellungnahme. Der Vergleich der israelischen Regierungspolitiker mit Hamas-Terroristen sei skandalös und ein klarer Ausdruck von Antisemitismus, so die Knesset-Abgeordneten. «Wir lehnen dies mit Abscheu ab. 80 Jahre nach dem Holocaust wird niemand den jüdischen Staat daran hindern, sich zu verteidigen.»
Hamas fordert Strafverfolgung israelischer Befehlshaber
Die Hamas kritisierte ihrerseits die Anträge des Chefanklägers auf Haftbefehle gegen ihre Anführer. «Seine Entscheidung vergleicht das Opfer mit einem Henker und ermutigt die (israelische) Besatzung, den genozidalen Krieg fortzusetzen», hieß es in einer Stellungnahme, die von dem Hamas-nahen TV-Sender Al-Aksa verbreitet wurde. In einer weiteren am Montagabend veröffentlichten Stellungnahme forderte die Hamas zudem eine Strafverfolgung aller israelischen Befehlshaber.
Auswärtiges Amt: «unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung»
Das parallele Vorgehen des IStGH-Chefanklägers gegen die Hamas und gegen Israel hat nach Einschätzung des Auswärtigen Amts ein falsches Bild entstehen lassen. «Durch die gleichzeitige Beantragung der Haftbefehle gegen die Hamas-Führer auf der einen und die beiden israelischen Amtsträger auf der anderen Seite ist der unzutreffende Eindruck einer Gleichsetzung entstanden», sagte ein Sprecher in Berlin. «Jedoch wird das Gericht nun sehr unterschiedliche Sachverhalte zu bewerten haben, die der Chefankläger in seinem Antrag ausführlich dargestellt hat.»
Auch aus den USA kam heftige Kritik am Vorgehen des Chefanklägers des IStGH. Israel und die islamistische Hamas dürften nicht gleichgestellt werden, teilte US-Präsident Joe Biden mit. Man werde Israel immer bei Bedrohungen gegen die Sicherheit des Landes zur Seite stehen, so Biden weiter. Ähnlich äußerte sich US-Außenminister Antony Blinken. Dass Haftbefehle für hochrangige israelische Beamte zusammen mit Haftbefehlen für Hamas-Terroristen beantragt worden seien, sei «beschämend».
Zuvor hatte bereits Österreichs Regierungschef Karl Nehammer (ÖVP) auf der Plattform X moniert, «dass die Anführer der Terrororganisation Hamas, deren erklärtes Ziel die Vernichtung des Staates Israels ist, in einem Atemzug genannt werden mit demokratisch gewählten Vertretern eben dieses Staates». Österreich gehört zu den Ländern, die das Selbstverteidigungsrecht Israels im Gaza-Krieg besonders betonen.
Frankreich stärkt Internationalem Strafgerichtshof den Rücken
Frankreich hat dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) nach dem Antrag auf Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und gegen den Anführer der Terrororganisation Hamas im Gazastreifen, Jihia al-Sinwar, den Rücken gestärkt. «Frankreich unterstützt den Internationalen Strafgerichtshof, seine Unabhängigkeit und den Kampf gegen Straflosigkeit in allen Situationen», teilte das französische Außenministerium in der Nacht mit.
Frankreich habe die von der Hamas verübten antisemitischen Massaker von Anfang an verurteilt, hieß es in Paris. Was Israel angehe, poche Frankreich seit vielen Monaten die strikte Einhaltung des humanitären Völkerrechts und beklage insbesondere die Opfer unter der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und den unzureichenden Zugang für Hilfslieferungen. «Frankreich setzt sich für die Suche nach einer dauerhaften politischen Lösung in der Region ein, die als einzige einen Friedenshorizont wiederherstellen und das Leiden sowohl der Israelis als auch der Palästinenser beenden kann», teilte das Ministerium mit.
«In Bezug auf Israel wird es Aufgabe der Vorverfahrenskammer des Gerichtshofs sein, über die Ausstellung dieser Haftbefehle zu entscheiden, nachdem sie die vom Ankläger zur Untermauerung seiner Anschuldigungen vorgebrachten Beweise geprüft hat, wobei sie den Grundsatz der Komplementarität und das mögliche Vorgehen israelischer Gerichte berücksichtigt», teilte das Pariser Außenministerium mit.
Südafrika begrüßt Vorgehen des Chefanklägers
Der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa hingegen begrüßte das Vorgehen des Chefanklägers am Strafgerichtshof. Südafrika hatte seinerseits den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag wiederholt zu Maßnahmen gegen Israel aufgefordert und dem Land Völkermord vorgeworfen.
Haftbefehle würden Bewegungsfreiheit einschränken
Es wird davon ausgegangen, dass Sinwar und Deif sich seit Beginn des Gaza-Kriegs vor mehr als sieben Monaten im unterirdischen Tunnelsystem der Hamas im Gazastreifen versteckt halten. Hanija führt dagegen Berichten zufolge mit einem Teil seiner Familie seit Jahren ein Luxusleben in Katar.
Das Gericht hat zwar keinerlei Möglichkeiten, Haftbefehle selbst zu vollstrecken. Jedoch ist die Bewegungsfreiheit der Gesuchten dadurch erheblich eingeschränkt ist. Denn im Falle von Haftbefehlen sind alle Vertragsstaaten des Gerichts verpflichtet, die Beschuldigten festzunehmen und nach Den Haag zu überstellen, sobald sie sich in ihrem Land befinden. 139 Staaten weltweit haben das Römische Statut - die vertragliche Grundlage des IStGH - unterzeichnet, 124 davon haben es ratifiziert, auch Deutschland. Israel gehört neben den USA, Russland und China zu den Staaten, die das Gericht nicht anerkennen. Aber die palästinensischen Gebiete sind Vertragsstaat. Daher darf der IStGH-Ankläger auch ermitteln.