Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, einer der profiliertesten deutschen Kenner Russlands, bekommt den mit 100.000 Euro dotierten Gerda Henkel Preis. Schlögel (76) habe in seinem langjährigen Schaffen nicht nur das Verständnis der neueren Geschichte Russlands, der Sowjetunion und des östlichen Europa wesentlich geprägt, urteilte die Jury unter der Leitung der Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger. Der Publizist habe auch ein eigenes Genre des historischen Erzählens begründet. «Seine Werke verbinden persönliche Reiseerfahrungen und Alltagsbeobachtungen mit profundem historischem Wissen und scharfsinniger Analyse.»
Nicht zuletzt wegen ihres unverwechselbaren literarischen Stils und ihrer Anschaulichkeit fänden Schlögels Bücher überall auf der Welt ein fasziniertes Lesepublikum. Der Preis wird am 25. November in Düsseldorf überreicht.
Von Stalin bis zur Ukraine
Schlögels Themen reichen vom stalinistischen Terror und der sowjetischen Moderne über die russische Emigration und Diaspora in Berlin bis hin zur Geschichte der Ukraine und zum russischen Angriffskrieg gegen das Nachbarland. Schon nach der Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen der Ostukraine durch Russland im Jahr 2014 stand für Schlögel die Existenz des ukrainischen Staates auf dem Spiel.
Zuletzt wandte sich Schlögel mit dem Buch «American Matrix» (2023) den USA zu und erzählte die Geschichte des 20. Jahrhunderts als eine Verflechtungsgeschichte der Imperien USA und Sowjetunion neu. «Karl Schlögel zeigt auf eindrückliche Weise, dass historische Urteilskraft und stetige kritische Selbstreflexion unerlässlich sind, wenn wir die Konflikte der Gegenwart angemessen verstehen wollen», heißt es in der Jury-Begründung.
Viele Bücher sind Standardwerke
Schlögel studierte an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Leningrad. Er gilt als einer der besten deutschen Russland-Kenner. Viele seiner Bücher sind Standardwerke und einem breiten Publikum bekannt, etwa «Terror und Traum. Moskau 1937», «Berlin, Ostbahnhof Europas» oder «Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen». Schlögel war Professor an der Universität Konstanz und an der Viadrina in Frankfurt an der Oder. Immer wieder war er für seine Städte- und Länderbilder auf Reisen, zuletzt in den USA.
Der Gerda Henkel Preis wird alle zwei Jahre für Forschung auf dem Gebiet der historischen Geisteswissenschaften verliehen und zählt zu den hoch dotierten Wissenschaftspreisen. Ausgezeichnet wurden damit etwa der Soziologe Richard Sennett, die Luther-Biografin Lyndal Roper, der Politikwissenschaftler Achille Mbembe und die Wissenschaftshistorikerin Lorraine Daston.