18 Jahre ist Annett Kaufmann erst alt, aber trotzdem kann sie im Moment von sich sagen: Es gab ein Leben vor den Olympischen Spielen und es gibt ein völlig anderes danach. Vor Olympia war das aktuell größte deutsche Tischtennis-Talent nur den Insidern dieses Sports ein Begriff. Seit Paris aber, sagt sie, «habe ich rund 35.000 Follower mehr auf meinem Instagram-Account.» Dazu hätten sie «Angebote für Management und Sponsoring, für Fernsehauftritte und für Podcasts erreicht. Und jede Menge Sachen mehr».
Zur Erinnerung: Mit nur 18 Jahren zog Kaufmann bei den Sommerspielen in Frankreichs Hauptstadt ein stark ersatzgeschwächtes deutsches Team nach dem Ausfall der beiden besten Spielerinnen bis ins Halbfinale. Vor laufenden Fernsehkameras tröstete sie nach der verpassten Bronzemedaille ihre weinende Teamkollegin Yuan Wan. Seitdem kennt sie in Deutschland ein weitaus größerer Teil der Öffentlichkeit. «Manche sagen: die nächste Boll», titelte Zeit Online.
Ein Jahr «im Tunnel»
An diesem Dienstag beginnen in Linz die Tischtennis-Europameisterschaften. Es ist das erste große Turnier, an dem Kaufmann nicht mehr als weitgehend unbekannte Außenseiterin an den Start gehen wird. Doch im deutschen Verband ist man sich sicher: Wenn jemand die nötige Coolness und Geradlinigkeit hat, um damit klarzukommen - dann sie.
Denn für Kaufmann ist schon das gesamte Jahr eine große Herausforderung. Die wichtigsten Termine waren im Zeitraffer: Team-Weltmeisterschaft in Südkorea. Abitur-Prüfungen in Bietigheim-Bissingen. Neuer Bundesliga-Club in Kolbermoor. Olympische Spiele in Paris. Jetzt die Individual-EM. Und dazwischen noch WTT-Turniere in Katar, Tunesien und China.
«Ich war schon in einem Tunnel», sagt Kaufmann. Aber bislang ging auch alles gut: Ihr Abitur bestand sie mit der Note 2,0. Bei Olympia spielte sie «auf Weltklasse-Niveau» (Bundestrainerin Tamara Boros). Die EM nimmt sie nun als «Win-Win-Situation: Wenn das Ergebnis gut wird, freue ich mich», sagt Kaufmann. «Falls nicht, habe ich trotzdem etwas gelernt.»
Sportlerfamilie Kaufmann
Ganz entscheidend für diese Haltung ist: Kaufmann kommt aus einer Sportlerfamilie. Ihr Vater ist der frühere Eishockey-Profi Andrej Kaufmann, der unter anderem für die Grizzlys Wolfsburg und die Schwenninger Wild Wings spielte. Ihre Mutter Anna Kaufmann startete im alpinen Ski-Weltcup für Kasachstan. Ihre ältere Schwester Alexandra besitzt seit dem vergangenen Jahr die Trainerlizenz des Deutschen Tischtennis-Bundes.
Das bedeutet: Annett Kaufmann hat von ihren Eltern nicht unbedingt das Talent oder den Ehrgeiz für ihren Sport mitbekommen. Aber die manchmal genauso entscheidende Hilfe, was man daraus am besten macht. «Wie geht man mit Verletzungen um? Was braucht man zur Regeneration? Wie geht man mit Nervosität um? Meine Eltern können mir aus ihrer Erfahrung sehr viel helfen», sagt sie.
Aus diesem Grund haben alle zusammen auch entschieden, Kaufmanns Management zumindest im ersten Jahr nach Olympia allein in den Händen der Familie zu behalten, wie sie sagt: «Wir wollen und werden nichts überstürzen.»
Erste EM ohne Boll
Vor der EM in Linz ist die Situation im deutschen Tischtennis nun so: Die Männer treten zum ersten Mal ohne Rekord-Europameister Timo Boll an. Und auch die verbliebenen Topspieler Dimitrij Ovtcharov (36), Patrick Franziska (32) und Dang Qiu (27) sind schon seit Jahren dabei.
Ausnahmetalente unter 20 gibt es in Deutschland aktuell nur bei den Frauen. Kaufmann gewann schon mit 15 Jahren die U19-EM. Die 14-jährige Josephina Neumann spielte mit 12 zum ersten Mal in der Bundesliga.
Der deutsche Sportdirektor Richard Prause freut sich über diese Entwicklung. Das wichtigste Wort ist für ihn jetzt aber: Geduld. «Am Anfang hatte man ein bisschen das Gefühl, dass die Gegnerinnen dachten: Wer ist eigentlich diese Annett Kaufmann?», sagte er in Paris. «Jetzt werden sich die anderen Nationen sehr intensiv mit ihr beschäftigen.»