Die britische Königin Victoria (1819-1901) liebte das Meer. Ihre «Bathing Machine», eine rollende Strandkabine die sie vor neugierigen Blicken schützte, ist noch heute am Privatstrand ihres Landsitzes Osborne House auf der Isle of Wight zu besichtigen. Doch wer heutzutage ganz in der Nähe ein Bad im Meer nehmen will, könnte eine unverhoffte Begegnung mit etwas machen, von dem er sich mit Betätigen der Klospülung vermeintlich für immer verabschiedet hatte.
Die nahe «Queen Vickys» Domizil gelegene Cowes Beach ist der am stärksten von ungeklärtem Abwasser verschmutzte Strand des ganzen Landes, wie eine Analyse offizieller Daten durch die Umweltaktivisten Friends of the Earth offenbarte. Demnach floss dort im vergangenen Jahr knapp 5000 Stunden lang Schmutzwasser ins Meer.
Kleine Häufchen markieren verschmutzte Badestrände
Das ist alles andere als ein Einzelfall, wie ein Blick auf die Webseite einer anderen Organisation zeigt: Die Surfer against Sewage (Surfer gegen Abwasser) stellen eine Karte zur Verfügung, die anzeigt, wo gerade ungeklärtes Abwasser ins Meer gelassen wurde. Kleine Häufchen markieren die Stellen, an denen von einem Bad dringend abgeraten wird und das sind oft nicht wenige.
Allein in England wurden im Jahr 2023 mehr als 440.000 Stunden lang ungeklärte Abwässer an der Küste ins Meer geleitet. Ein Viertel davon in der Nähe von Badestränden.
Das Problem, gegen das Menschen am Wochenende an mehreren Orten protestierten, ist nicht neu. Im Bericht zur Badewasserqualität der Europäischen Umweltagentur EEA im Jahr 2020, dem letzten, in dem Großbritannien vor dem Brexit noch enthalten war, nahm das Land den letzten Platz ein. Nur 17,2 Prozent der Badegewässer wurden als exzellent bewertet. Im Vergleich dazu: In Deutschland galt das für 89,9 Prozent der Gewässer und in Griechenland gar für 97,1 Prozent. Doch warum steht ausgerechnet Großbritannien so schlecht da?
Ungeklärtes Abwasser geht regelmäßig in Gewässer
Dass Schmutzwasser hin und wieder unbehandelt in Seen, Flüsse und Küstengewässer gelangt, geschieht auch in Deutschland. Grund dafür ist, dass besonders in großen Städten Schmutzwasser und Regenwasser oft in ein einziges Kanalsystem fließen. Damit bei starken Regenfällen das Abwasser nicht wieder in Häuser und auf Straßen gedrückt wird, und Kläranlagen nicht überlaufen, wird durch den sogenannten Mischwasserüberlauf das Kanalisationssystem entlastet. Dann fließt ein Mix aus ungeklärtem Abwasser und Regenwasser direkt in die Natur. Das Problem: In Großbritannien ist das beinahe schon zur Regel geworden. In manchen Fällen geschieht es sogar, wenn es nicht geregnet hat.
Grundsätzlich ist die Mischwasserkanalisation laut dem Infrastruktur-Experten und Professor für Wirtschaftspolitik Dieter Helm von der Universität Oxford aber nicht Kern des Problems. Tatsächlich wäre eine flächendeckende getrennte Kanalisation gar nicht zu finanzieren - und auch nicht notwendig, sagt er im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Dividenden wurden durch Kredite finanziert
Das Problem ist vielmehr, dass in den vergangenen Jahrzehnten in das bestehende Abwassersystem trotz höherer Anforderungen und wachsender Bevölkerung kaum investiert wurde. Der Grund dafür liegt laut Helm an einem katastrophalen Versagen der Aufsichtsbehörden: Denn die Ende der 80er-Jahre privatisierten Wasserversorger wurden nicht daran gehindert, statt zu investieren, fleißig Dividenden an ihre Anteilseigner auszuschütten - sogar mit Geld, das aus Krediten stammte.
«Das ist als würde man beim Fußball zuerst den eigenen Torwart vom Platz nehmen und dann auf einen Schiedsrichter verzichten», sagt Helm, der in einem insolvenzähnlichen Verfahren für den hoch verschuldeten Wasserversorger Thames Water den einzigen Ausweg sieht. Doch das lehnen bislang beide große politische Parteien in Großbritannien ab. Stattdessen verhandeln die Aufsichtsbehörden mit den Wasserversorgern um Investitionsprogramme, die jedoch Preiserhöhungen von bis zu 44 Prozent für Haushalte mit sich bringen sollen. Viele Briten empfinden das als schamlos.
Pünktlich zum Start der Badesaison in Großbritannien Mitte Mai machte die Nachricht Schlagzeilen, dass selbst der idyllische Lake Windermere im Lake District mit Fäkalien verpestet wurde. In der Grafschaft Devon erkrankten durch kontaminiertes Trinkwasser Dutzende Menschen an Durchfall und Übelkeit. Bis Großbritanniens Fäkalien-Krise gelöst ist, dürften mindestens zehn Jahre vergehen, glaubt Experte Helm.