Ein selbst ernannter «Anarchokapitalist» im Kanzleramt: Bei einem einstündigen Gespräch mit dem argentinischen Präsidenten Javier Milei hat Bundeskanzler Olaf Scholz mahnende Worte an den exzentrischen Radikalreformer gerichtet, der im Wahlkampf auch schon mal mit heulender Kettensäge auftrat.
Nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Hebestreit unterstrich Scholz, dass Sozialverträglichkeit und der Schutz des gesellschaftlichen Zusammenhalts bei den harten Sparmaßnahmen des Präsidenten ein wichtiger Maßstab sein sollten.
Der ultraliberale Milei hält allerdings nichts von sozialen Sicherungssystemen und Umverteilung. Steuern sind in seinen Augen Raub und Bemühungen um soziale Gerechtigkeit führten immer zu mehr Ungerechtigkeit, so seine Überzeugung. «Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem», lautet eines seiner Mantras.
Das Gespräch dauerte wie geplant nur 60 Minuten. Eine zunächst angekündigte gemeinsame Pressekonferenz von Scholz und Milei war ebenso wie der Empfang mit militärischen Ehren kurzfristig abgesagt worden - auf Wunsch des argentinischen Präsidenten, wie es von deutscher Seite hieß. Der einzige gemeinsame öffentliche Auftritt blieb damit ein kurzer Fototermin bei der Begrüßung mit Handschlag vor dem Kanzleramt.
«Weg mit Milei»: Proteste vor Kanzleramt
Vor der Regierungszentrale protestierten mehrere Dutzend Demonstranten mit Plakaten wie «Weg mit Milei» und «Argentinien steht nicht zum Verkauf» gegen den Besuch. Sie skandierten «Milei, Abschaum - du bist die Diktatur.»
Argentinien steckt in einer Rezession und leidet unter einem aufgeblähten Staatsapparat, geringer Produktivität der Industrie und einer großen Schattenwirtschaft, die dem Staat viele Steuereinnahmen entzieht. Der ultraliberale Präsident will das einst reiche Land mit einem radikalen Sparprogramm wieder auf Kurs bringen.
Das hat allerdings seinen Preis: Die harten Maßnahmen würgen die Wirtschaftsleistung ab. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet mit einem Rückgang um 2,8 Prozent im laufenden Jahr. Nach Angaben der Katholischen Universität Argentiniens leben knapp 56 Prozent der Menschen in Argentinien unter der Armutsgrenze und rund 18 Prozent in extremer Armut.
Abschluss des EU-Mercosur-Abkommens gefordert
Scholz und Milei sprachen auch über die wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder. Beide machten sich laut Hebestreit für den zügigen Abschluss der seit 25 Jahren andauernden Gespräche über eine Freihandelszone zwischen der Europäischen Union und dem südamerikanischen Staatenverbund Mercosur stark, dem neben Argentinien auch Brasilien, Uruguay und Paraguay angehören. Mit dem Abkommen würde eine der weltweit größten Freihandelszonen mit mehr als 700 Millionen Einwohnern entstehen. Eine Grundsatzeinigung aus dem Jahr 2019 wird jedoch wegen anhaltender Bedenken - etwa beim Regenwaldschutz - nicht umgesetzt.
Auf einer Linie waren Scholz und Milei auch mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Beide seien sich einig gewesen, «dass Russland es in der Hand hat, den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu beenden», erklärte Hebestreit.
Exzentriker gibt sich zahm
Der Staatschef der zweitgrößten Volkswirtschaft Südamerikas, die zur G20-Staatengruppe der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer gehört, gilt als Exzentriker und wird oft mit dem früheren US-Präsidenten Donald Trump verglichen. Parlamentarier tituliert er gerne als «Ratten» und der Staat ist für ihn die Wurzel allen Übels. Bei seinem zweitägigen Besuch in Deutschland gab er sich allerdings eher zahm.
Er war bereits am Samstag in Deutschland eingetroffen und hatte in Hamburg für seine marktradikalen Reformen die Medaille der liberalen Friedrich August von Hayek-Gesellschaft erhalten - in Anwesenheit der AfD-Politikerin Beatrix von Storch und des Vorsitzenden der rechtskonservativen Werteunion, Hans-Georg Maaßen. «Sie bringen den Kapitalismus aus der Defensive», sagte der Vorsitzende des Ökonomen-Verbandes, Stefan Kooths, in seiner Laudatio.
Milei verteidigte seine Reformen mit den Worten. «Es war immer klar, dass das nicht ohne Härten über die Bühne gehen wird, aber das haben wir den Leuten immer klar kommuniziert», sagte Milei bei seinem recht langatmigen Vortrag vor der Hayek-Gesellschaft. «Wir haben gesagt, dass es kein Geld gibt, dass es hart werden wird, dass der Anfang schwer werden wird, aber dass wir schließlich gute Ergebnisse erzielen werden.»
«Es lebe die Freiheit, verdammt noch mal»
Wer sich in Hamburg allerdings eine flammende Rede des Enfant terrible der argentinischen Politik erhofft hatte, dürfte enttäuscht worden sein. Rund eine Stunde referierte Milei über seine Begeisterung für die wirtschaftswissenschaftliche Denkrichtung der Österreichischen Schule, seinen Aufstieg vom TV-Experten über Hinterbänkler im Parlament bis hin zum Staatschef und seine Zukunftsvision für Argentinien.
Der 53-Jährige changiert bei seinen öffentlichen Auftritten stets zwischen den Extremen. Mal gibt er die exzentrische Rampensau, rennt über die Bühne, brüllt und gestikuliert. Dann wieder hält er knochentrockene ökonomische Fachvorträge. Zumindest am Ende seines Diskurses in Hamburg versöhnte er die rund 200 geladen Gäste mit seiner typischen Abschiedsformel: «Es lebe die Freiheit, verdammt noch mal.»
Milei besucht Denkmal für ermordeten Juden Europas
In Berlin besuchte er auch das Holocaustmahnmal. Auf einem vom Präsidialamt veröffentlichten Foto war zu sehen, wie er andächtig über die grauen Stelen neben dem Brandenburger Tor blickt. Der argentinische Präsident ist zwar katholisch aufgewachsen, aber seit Jahren sehr am Judentum interessiert. Bei einem Besuch in Israel betete er an der Klagemauer, er pilgerte zum Grab des berühmten Rabbis Menachem Mendel Schneerson in New York und vertraut in spirituellen Dingen auf den Rat eines jüdisch-orthodoxen Geistlichen. Milei gilt als entschlossener Verbündeter Israels und unterstützt im Gaza-Krieg die Politik der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vorbehaltlos.
Vor Scholz haben bisher nur vier Staats- und Regierungschefs Milei seit dessen Amtsantritt vor einem halben Jahr empfangen: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni, El Salvadors Präsident Nayib Bukele und Papst Franziskus als Staatsoberhaupt des Vatikans. Die für argentinische Präsidenten üblichen Reisen in die wichtigen Nachbarländer wie Brasilien und Chile ließ Milei wegen ideologischer Differenzen ausfallen. In den USA war er zwar bereits mehrfach - aber ohne Termin im Weißen Haus. Stattdessen traf er sich mit Tesla-Boss Elon Musk und Ex-Präsident Trump.