Während Israel die islamistische Hamas im Gazastreifen durch erhöhten militärischen Druck zu Zugeständnissen bei den Geisel-Verhandlungen zwingen will, wird die Versorgung der notleidenden Zivilbevölkerung durch die Kämpfe und anarchische Zustände erschwert. Den Betrieb eines provisorischen Hafens vor der Küste für die Lieferung von Hilfsgütern stellen die USA nun endgültig ein, wie das Regionalkommando des US-Militärs mitteilte. Über den Hafen von Aschdod in Israel sei eine alternative Route nach Gaza geplant.
Details dazu waren zunächst nicht bekannt. Man sei aber zuversichtlich, dass der Weg über Aschdod praktikabel und eine wichtige Route nach Gaza sein werde, erklärte Sonali Korde von der US-Behörde für Entwicklungszusammenarbeit. Sie fügte jedoch hinzu, dass es weiterhin Hindernisse gebe. «Die größte Herausforderung im Gazastreifen sind die Unsicherheit und die Gesetzlosigkeit, die die Verteilung der Hilfsgüter behindern, sobald diese in den Gazastreifen und zu den Grenzübergängen gelangen», sagte sie.
Netanjahu will mehr Druck auf die Hamas
Bei einer hitzigen Debatte im israelischen Parlament verteidigte Israels Regierungschef Netanjahu laut Medien seine Kriegsführung. Nur durch noch mehr militärischen Druck werde man der Hamas weitere Zugeständnisse abringen. «Uns wurde gesagt, dass die Hamas nicht bereit sei, Geiseln freizulassen, ohne dass wir vorher zustimmen, den Krieg zu beenden. Plötzlich willigt sie ein», sagte Netanjahu. «Je mehr wir den Druck aufrechterhalten, desto mehr wird sie nachgeben. Und das ist der einzige Weg, um die Geiseln zu befreien», sagte er.
Netanjahus Kritiker werfen dem Regierungschef vor, die indirekten Verhandlungen mit den Islamisten zur Erzielung eines Abkommens zu sabotieren. Er regiert mit ultra-religiösen und rechtsextremen Koalitionspartnern, die Zugeständnisse an die Hamas ablehnen. Netanjahu, gegen den ein Korruptionsprozess läuft, ist für sein politisches Überleben auf diese Partner angewiesen. Er wird am 24. Juli vor beiden Kammern des US-Kongresses eine Rede zum Vorgehen Israels im Gazastreifen nach den Angriffen der Hamas vom 7. Oktober halten.
Der israelische Oppositionsführer Jair Lapid verlangte, dass Netanjahu während seiner Rede in den USA seine Zustimmung zu einem Geiselabkommen bekannt gibt. Falls er das aber nicht vorhabe, solle Netanjahu seine Reise nach Washington absagen, sagte Lapid laut der «Times of Israel». Der Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, Daniel Barnea, sagte örtlichen Medienberichten zufolge bei einer Sitzung des Sicherheitskabinetts, junge weibliche Geiseln der Hamas hätten nach mehr als neun Monaten «keine Zeit» mehr.
Die jungen Frauen in Gefangenschaft «haben keine Zeit, um auf Änderungen des diskutierten Vorschlags zu warten», zitierten mehrere israelische Medien Barnea bei der Sitzung hinter verschlossenen Türen. Es gibt Sorgen, dass junge Geiseln im Gazastreifen von ihren Entführern vergewaltigt wurden. In dem abgeriegelten Küstengebiet werden noch rund 120 Entführte vermutet, viele von ihnen dürften aber nicht mehr leben. Angeblich will Netanjahu Änderungen an dem derzeit auf dem Tisch liegenden Vorschlag für ein Abkommen.
Der dreistufige Plan sieht den Austausch der Geiseln gegen palästinensische Häftlinge in israelischen Gefängnissen sowie Wege hin zu einer dauerhaften Waffenruhe vor. In der vergangenen Woche waren israelische Unterhändler nach Katar gereist, um die Verhandlungen fortzusetzen. Katar, Ägypten und die USA vermitteln zwischen Israel und der Hamas. Seitdem wurden jedoch keine weiteren ranghohen Treffen mehr angekündigt. Dabei hatten Teilnehmer der indirekten Gespräche kürzlich noch vorsichtigen Optimismus gezeigt.
Schwierige Versorgung der Gaza-Bevölkerung
Derweil gestaltet sich die Versorgung der Menschen in Gaza weiter äußerst schwierig. Über den nun eingestellten provisorischen Hafen der USA waren erstmals am 17. Mai Lastwagen mit Hilfsgütern in den abgeriegelten Küstenstreifen gelangt. Seither hatte es aber immer wieder Probleme gegeben. Rauer Seegang hatte den zu dem Provisorium gehörenden Pier schwer beschädigt. Auch die Verteilung der Hilfe gestaltete sich als mehr als schwierig. Es seien dennoch sehr große Mengen Hilfsgüter nach Gaza gelangt, betonte das US-Militär.
Der provisorische Hafen war von Beginn an aber ohnehin nur als vorübergehende Lösung gedacht. Nun trete man in eine «neue Phase ein», sagte Vizeadmiral Brad Cooper, stellvertretender Befehlshaber des zuständigen Regionalkommandos des US-Militärs. Man gehe davon aus, dass in den kommenden Wochen größere Mengen an Hilfsgütern über den neuen Weg in den Gazastreifen gelangen würden. Rund 2300 Tonnen lagerten noch in Zypern und warteten auf ihren Transit über Aschdod in den abgeriegelten Küstenstreifen.
In den kommenden Tagen wolle man mit der Lieferung beginnen, sagte Cooper. Wie das US-Nachrichtenportal «Axios» derweil unter Berufung auf Beamte Israels und der USA berichtete, haben die USA, Israel und die im Westjordanland regierende Palästinensische Autonomiebehörde (PA) vergangene Woche ein geheimes Treffen abgehalten, um die Wiedereröffnung des Rafah-Übergangs im Süden des abgeriegelten Gazastreifens zwischen Ägypten und Gaza als Teil eines Geisel- und Waffenruhe-Abkommens zu besprechen.
Bericht: Gespräche über Öffnung des Grenzübergangs Rafah
Nach Ansicht von US-Beamten könnte die Öffnung des Übergangs Rafah ein erster Schritt im Rahmen einer Nachkriegsstrategie zur Stabilisierung des Küstenstreifens sein, berichtete «Axios». Israel und Ägypten haben bisher keine Einigung erzielt, wie der wichtige Übergang Rafah wieder geöffnet werden soll. Ägypten wolle, dass künftig Personal der PA den Übergang betreibe, hieß es. Israel wolle zwar auch, dass Personen, die nicht mit der Hamas verbunden sind, den Übergang verwalten, lehne aber jede offizielle Beteiligung der PA ab.
Während die USA wollen, dass die Palästinensische Autonomiebehörde umgestaltet wird und auch im Gazastreifen künftig wieder die Kontrolle ausübt, ist Israels Regierungschef Netanjahu dagegen. Kritiker werfen ihm vor, keinen Plan zur Stabilisierung und Verwaltung Gazas zu entwickeln. Damit lasse er zu, dass das Küstengebiet im Chaos versinke. Israels Truppen liefen Gefahr, von der Hamas in einen endlosen Guerilla-Krieg verwickelt zu werden.
Auslöser des Krieges war das Massaker in Israel, das Terroristen der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober in Israel verübt hatten. Sie töteten rund 1.200 Israelis und verschleppten rund 250 weitere Menschen in den Gazastreifen. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden seit Beginn des Krieges bereits mindestens 38.794 Menschen im Gazastreifen getötet. Die Zahl, bei der nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern unterschieden wird, lässt sich derzeit nicht unabhängig verifizieren.