Bei Massenkundgebungen in Israel haben einmal mehr zehntausende Menschen für die Freilassung der Geiseln im Gazastreifen und gegen die Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu demonstriert.
In Tel Aviv und anderen Städten verlangten die Demonstranten von Netanjahu, einem Ende der Kämpfe mit der Hamas als Teil eines Abkommens zuzustimmen, dass die von den Islamisten verschleppten Geiseln wieder zu ihren Familien bringt, wie die Online-Ausgabe der Zeitung «Haaretz» berichtete. Nach Darstellung des Forums der Geisel-Familien handelte es sich um den größten Protest seit Beginn des Gaza-Kriegs im Oktober vergangenen Jahres. Überschattet wurden die Proteste vom Tod acht israelischer Soldaten bei Kämpfen in Rafah im südlichen Gazastreifen.
In einer auf Video aufgezeichneten Rede sagte Andrey Kozlov, den die israelische Armee zusammen mit drei weiteren Geiseln vor einer Woche bei einem Großeinsatz aus der Gefangenschaft befreit hatte: «Für die Geiseln, die noch in Gaza sind, gibt es nur eine einzige Lösung: einen Deal zwischen Israel und der Hamas.» In der Gefangenschaft hätten die Hamas-Leute ihn und seine Mitgefangenen die Fernsehberichte von den wöchentlichen Demonstrationen in Israel ansehen lassen. Das habe ihnen Mut und Zuversicht gegeben. «Ihr seid Helden!», sagte Kozlov an die Demonstranten gerichtet.
In Tel Aviv wurden laut der Zeitung «Times of Israel» zwölf Menschen festgenommen. Die Polizei wirft ihnen demnach Verstöße gegen die öffentliche Ordnung vor. Sie hätten unter anderem Straßen blockiert.
Größter Protest seit Beginn des Gaza-Kriegs
Am 7. Oktober hatten Terroristen der Hamas und anderer Palästinensergruppen den Süden Israels überfallen, rund 1200 Menschen ermordet und weitere 250 als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Im Zuge des dadurch ausgelösten Krieges wurden nach - unabhängig nicht überprüfbaren - Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörden mehr als 37.000 Palästinenser getötet. Rund vier Fünftel der Bevölkerung sind innerhalb des abgeriegelten Küstenstreifens auf der Flucht.
Ein Abkommen über die Freilassung der verbliebenen Geiseln in der Gewalt der Hamas - im Gegenzug für die Freilassung von Palästinensern in israelischen Gefängnissen - scheint derzeit nicht in Reichweite. Vermutet wird, dass sich noch rund 120 Geiseln in dem abgeschotteten Küstengebiet befinden. Wie viele von ihnen noch am Leben sind, ist unklar.
Die Hamas verlangt als Voraussetzung für einen Geisel-Deal ein Ende des Krieges oder zumindest eine Garantie dafür, dass Israel die Kampfhandlungen einstellt. Netanjahus Regierung ist dazu nicht bereit. Ihr Ziel ist es, die bis zum Kriegsbeginn unangefochten über den Gazastreifen herrschende Terrororganisation militärisch zu zerschlagen und politisch zu entmachten.
Acht israelische Soldaten getötet
In der Stadt Rafah an der Grenze zu Ägypten wurden Militärangaben zufolge gestern Morgen acht israelische Soldaten bei der Explosion ihres in einem Konvoi fahrenden gepanzerten Personentransporters getötet. Noch sei unklar, ob die Explosion von einer Panzerabwehrrakete oder einer Sprengfalle ausgelöst wurde, sagte Armee-Sprecher Daniel Hagari. «Heute wurden wir ein weiteres Mal schmerzlich an den Preis des Krieges erinnert.» Bei Kämpfen in der Nacht zuvor hatten israelischen Einheiten nach Armeeangaben 50 Milizionäre der Hamas getötet.
Israel will in Rafah nach eigenen Angaben eine der letzten Hochburgen der Hamas und ihrer Verbündeten zerschlagen. Das Militär geht dort seit Anfang Mai verstärkt mit Bodentruppen gegen die Hamas vor, will dies aber nur als begrenzten Einsatz, nicht als großangelegte Offensive verstanden wissen. Letzteres hatte US-Präsident Joe Biden zur «roten Linie» erklärt. Wegen der vielen Toten und der katastrophalen humanitären Lage ist das Vorgehen Israels im Gaza-Krieg international umstritten.
Wer für den Angriff auf den Konvoi verantwortlich ist, teilten die Streitkräfte nicht mit. Über Telegram erklärten die Kassam-Brigade, der bewaffnete Arm der Hamas, sie hätten «Fahrzeuge des Feindes» in Tal al-Sultan aus dem Hinterhalt überfallen. Wie so oft im Verlauf der Kriegshandlungen ließen sich weder die Angaben der israelischen Armee noch die der Gegenseite unabhängig überprüfen.
WFP warnt vor Verschlechterung der Lage im Süden Gazas
Das Welternährungsprogramm (WFP) warnt davor, dass die Menschen im südlichen Teil des Gazastreifens schon bald unter der gleichen katastrophalen Hunger-Lage leiden könnten wie zuvor jene in den nördlichen Gebieten. «Die Situation im südlichen Gaza verschlechtert sich rasch», sagte der stellvertretende WFP-Direktor Carl Skau nach einem zweitägigen Besuch der Region am vergangenen Freitag.
Eine Million Menschen seien aus Rafah vertrieben worden und bei brütender Sommerhitze in einem überfüllten Gebiet entlang des Strandes eingepfercht. Im nördlichen Teil Gazas habe sich die Versorgung mit Hilfsgütern zwar etwas verbessert, sagte Skau. Nachhaltig abgesichert sei die Verteilung von Nahrungsmitteln aber nicht.
Das Palästinenserhilfswerk UNRWA teilte unterdessen mit, mehr als 50.000 Kinder im Gazastreifen müssten wegen akuter Mangelernährung behandelt werden. Angesichts der nach wie vor bestehenden Beschränkungen für humanitäre Hilfe seien die Menschen «weiter von einem verzweifelten Ausmaß des Hungers betroffen».