Große Freude herrscht bei Pedro Almodóvar an seinem 75. Geburtstag am heutigen Tag vermutlich nicht. «Ich habe das Gefühl, dass jeder Tag, der vergeht, ein Tag weniger ist, den ich zu leben habe», gestand der Star-Regisseur kürzlich beim Filmfestival in Venedig. «Ich denke jeden Tag an den Tod», fügte er hinzu und räumte ein, er habe dazu «ein kindliches und unreifes» Verhältnis.
Von inneren Ängsten und Unsicherheiten ließ sich der furchtlose Tabubrecher aber nie in die Schranken weisen. Ebenso wenig von gesellschaftlichen Zwängen und Moralvorstellungen. Dass der Spanier mit seinem ersten englischsprachigen Film, dem leichtfüßigen wie tiefgründigen Drama «The Room Next Door» mit Julianne Moore und Tilda Swinton, der eben über den Tod handelt, in der Lagunenstadt gleich den Goldenen Löwen gewann, spricht Bände.
Nach 23 Spielfilmen, drei Büchern, unzähligen Kurzfilmen, einen Ausflug in die Malerei und vielen weiteren künstlerischen Tätigkeiten denkt er im Rentenalter nicht daran, einen Gang zurückzuschalten - und schon gar nicht ans Aufhören. Sein Produzent und Bruder Agustín Almodóvar (69) verriet dieser Tage, man habe viele Projekte in der Pipeline.
Der erfolgreichste, extravaganteste und wohl auch kontroverseste Filmemacher, Produzent und Drehbuchautor Spaniens der letzten Jahrzehnte fühlt sich, als befinde er sich im Wettlauf gegen die Zeit. «Ich spüre, wie knapp die Zeit ist, und denke darüber nach, was mir noch bleibt. Ich habe viel Stress, weil ich sie optimal nutzen möchte», sagte er in der jüngsten Ausgabe der spanischen «Vogue». Er fühle sich deutlich jünger als Mitte 70.
Filmen als Liebesakt
Wie leidenschaftlich Almodóvar arbeitet und kreiert, hat vielleicht niemand besser beschrieben als Ethan Hawke: «Das Filmen ist für ihn ein Liebesakt», sagte der Hollywoodstar voriges Jahr nach ihrer Zusammenarbeit im queeren Kurzwestern «Strange Way of Life». Die «Kino-Legende» habe «einen einzigartigen und unnachahmlichen Stil».
In der Tat: Der Mann, der mit «Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs» vor rund 35 Jahren weltweit den Durchbruch schaffte, versteht es wie kaum ein anderer, den Spagat zwischen Kunst und Kitsch, Krimi und Komödie, Tragik und Träumerei, Provokation und Poesie, und auch zwischen dem Bizarren und dem Bodenständigen zu meistern.
Auszeichnungen sammelt er am laufenden Band
Almodóvar hat eindrucksvoll bewiesen, dass Autorenfilm und kommerzieller Erfolg auch über die Grenzen seines Sprachraums hinweg vereinbar sind. Der Erfolg hat aber Folgen: Die Festival-Tour scheint derzeit kein Ende zu nehmen. Neben der Präsentation seines neuen Films gehört dazu auch die Entgegennahme von Auszeichnungen - und zwar am laufenden Band. Nur einen Tag nach seinem Geburtstag, am 26. September, wird er etwa beim Festival von San Sebastián den Ehrenpreis Donostia empfangen.
Den Oscar hat die Film- und Sozial-Ikone bisher schon zwei Mal gewonnen: Für die Tragikomödie «Alles über meine Mutter» als bester nicht englischsprachiger Film und für das beste Original-Drehbuch zum Drama «Sprich mit ihr» (2002). Mit «The Room Next Door» strebt er nächstes Jahr in L.A. den Hauptpreis an und damit den ganz großen Wurf seiner Karriere. Unter anderem erhielt er bereits den Europäischen Filmpreis, und in seiner Heimat wurde er mit dem Goya und dem Prinz-von-Asturien-Preis geehrt.
Mit 16 Jahren Flucht aus dem Provinz-Mief
Klein-Pedro wuchs während der Franco-Diktatur im Mief des Provinz-Dorfes Calzada de Calatrava in Kastilien-La Mancha auf. Mit 16, schon damals nach eigenen Worten «süchtig nach Kino», zog er allein und ohne Geld nach Madrid. Gelegenheitsjobs hielten ihn dort über Wasser. Er tauchte nach dem Ende der Diktatur ins schwule Nachtleben der Hauptstadt ein, trat mit einer Punk-Band auf und drehte mit einer Super-8-Kamera Kurzfilme, die in der «Movida», der Kulturrevolution Ende der 1970er und Anfang der 1980er, bald für Aufsehen sorgten.
Seinen ersten Kinofilm «Pepi, Luci, Bom und der Rest der Bande» drehte der Mann, der von so unterschiedlichen Künstlern wie Alfred Hitchcock, Federico Fellini und Pina Bausch inspiriert wurde, praktisch ohne Budget. Es folgten zahlreiche Meisterwerke, wie «Fessle mich!» (1990), «Alles über meine Mutter»(1999), «La mala educación - Schlechte Erziehung» (2004) und «Volver - Zurückkehren» (2006). Almodóvar hat dabei die Hollywoodstars Antonio Banderas, Javier Bardem und Penélope Cruz in diesem Werk zusammengebracht.
Der «Frauen-Versteher»
Vor allem absurde Tragikomödien mit starken und exzentrischen Frauen wurden zu seinem Markenzeichen. Ob unkonventionelle Nonnen, die sich Heroin spritzen, Mütter, Töchter, Geliebte oder unterdrückte Ehefrauen, die ihren Ehemann schon mal mit einer Schinkenkeule totschlagen, Prostituierte, Putzfrauen, Transvestiten oder Transsexuelle - in Almodóvars Filmen sind sie stets die Heldinnen. Für Penélope Cruz ist Almodóvar «der große Beobachter und Versteher der Frauen». «Er zollt der Frau ständig Tribut», sagte sie.
In Spanien wird Almodóvar verehrt. Die Zeitung «El País» erhob ihn nach dem Erfolg in Venedig zum «Picasso des Kinos» und zum «nationalen Schatz». Seine progressive Einstellung sowie sein politisches und soziales Engagement sind jedoch vielen in Spanien - vor allem den Erzkonservativen - ein Dorn im Auge. Er prangert bei jeder Gelegenheit unter anderem die Kriegslust, den Rechtsextremismus und die Verteufelung der Migranten an.
Almodóvar nimmt kein Blatt vor den Mund
In Venedig erklärte der Großmeister, sein jüngster Film sei auch ein Plädoyer für die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe («das muss dringend weltweit geschehen») und auch eine Geschichte «über eine sterbende Frau in einer sterbenden Welt. Klimawandel ist kein Scherz». In einigen spanischen Medien und Kreisen wurde er dafür kritisiert. In Venedig gab es nach der Vorführung des Films rekordverdächtigen Beifall von satten 17 Minuten.