Die Größe der Aufgabe kann für Julian Nagelsmann gar nicht groß genug sein. Der immense Erfolgsdruck, der auf einem Nationaltrainer lastet und der sich bei einem Turnier im eigenen Land noch potenziert, begreift der 36-Jährige nicht als Last, sondern als Antrieb und sogar «als Privileg». Ächzen unter der großen Verantwortung?
Nein, das liegt dem jüngsten deutschen Turniertrainer fern, der sich in diesen EM-Tagen selbst so charakterisierte: «Mahner und Ober-Bedenkenträger liebt man in Deutschland, aber zu denen zähle ich nicht.» Auch wenn er ansonsten recht deutsch sei.
Das Ziel Titelgewinn formulierte Nagelsmann schon vor den ermutigenden ersten Auftritten, dem Achtelfinaleinzug und dem beim 1:1 gegen die Schweiz in der Nachspielzeit bejubelten Gruppensieg. Der Bundes-Entertainer Nagelsmann inszeniert die Heim-EM als großes Rollenspiel. Er selbst ist der Regisseur und spielt dazu die männliche Hauptrolle.
Den DFB-Kader hat er mit Stammspielern, Herausforderern und jungen Turnierdebütanten besetzt. Im Trainerstab und dem Team hinter dem Team hat auch jeder seine Aufgabe. Das Publikum, die Fans, sollen den Stimmungsrahmen liefern. Sogar in den Medien sieht er potenzielle Supporter. «Ich hoffe, dass ihr alle auch Erfolg wollt?», sagt er regelmäßig.
«Wir versuchen alles Menschenmögliche, den Titel zu gewinnen», hat Nagelsmann vor dem Turnier versprochen. Er weiß: «Am Ende wissen wir, mit guten Spielen werden wir viele lächelnde Gesichter in Deutschland haben und mit nicht so guten weniger lächelnde.» Für den Maximalerfolg umgibt er sich mit engen Vertrauten, dem Nagelsmann-Kosmos:
Der Schattenmann und Seelenverwandte
Benjamin Glück ist für Nagelsmann viel mehr als ein Co-Trainer. Der 38-Jährige ist im DFB-Tross seine engste Bezugsperson. Wo immer Nagelsmann auftaucht, ist Glück nicht weit, auch wenn er meist unscheinbar im Hintergrund bleibt. «Benji ist einer, der meine Struktur und meine Gedanken kennt. Er weiß, wie ich ticke», beschrieb es Nagelsmann.
Bei der TSG Hoffenheim kamen sie vor zehn Jahren zusammen. Seitdem sind der damalige Video-Analyst und Nagelsmann untrennbar. Ihr gemeinsamer Weg führte sie von Hoffenheim über RB Leipzig und den FC Bayern zum DFB. Beide kommen aus Oberbayern, beide lieben die Berge. Vorm Turnierstart offenbarte ein Nagelsmann-Satz die Nähe zueinander.
«Ich komme aus einem 700-Seelen-Dorf, bei ihm sind es vielleicht 1200. Beide Ortschaften haben mehr Kühe als Einwohner. Und jetzt haben wir das Eröffnungsspiel der Heim-EM in München. Das ist schon sehr emotional.» Glück saß dabei wie so oft in der Pressekonferenz und lauschte gebannt den Worten seines Weggefährten oben auf dem Podium.
Der leise Co-Trainer
Julian Nagelsmann und Sandro Wagner - das passt. Weil auch Letzterer seine Rolle annimmt und vollauf erfüllt. Der 36-Jährige war einst eine Saison lang Spieler unter Nagelsmann in Hoffenheim. Der Ex-Nationalspieler hat den Draht zur aktuellen Spielgeneration. Und als Cheftrainer führte er die SpVgg Unterhaching in die 3. Liga. Als DFB-Sportdirektor Rudi Völler nach der Trennung von Hansi Flick im September 2023 beim 2:1 gegen Frankreich als Interimsteamchef einsprang, holte er den damaligen DFB-Nachwuchscoach dazu.
Völler empfahl Nagelsmann dann die Festanstellung Wagners als Co-Trainer. Ein Gespräch reichte aus, den Bundestrainer zu überzeugen. «Das Telefon wurde warm, weil er sofort gebrannt hat», erzählte Nagelsmann. Wagners Arbeit konzentriert sich aufs Training, auf Taktik- und Wechsel-Tipps beim Spiel. Nur medial ist der eloquente Ex-Nationalspieler, der etwa bei der WM 2022 als TV-Experte Eindruck machte, leise geworden. Nagelsmann machte schon zum Amtsantritt bei der USA-Reise im Oktober 2023 deutlich: Medienarbeit ist Chefsache. Daran hat sich auch im laufenden EM-Turnier nichts geädert.
Weiterer Trainerstab
Den Großteil des weiteren DFB-Personals hat Nagelsmann übernommen, etwa Torwartcoach Andreas Kronenberg oder Standardexperte Mads Buttgereit. Auch ihre Verträge wurden noch vor dem Turnier wie die von Nagelsmann, Glück und Wagner bis zur nächsten WM 2026 verlängert. «Sie machen einen sehr guten Job. Es ist blindes Verständnis auf vielen Ebenen. Du musst Vertrauen in dein Team haben, Dinge abgeben können und wissen, es wird erledigt», beschrieb Chef Nagelsmann die Zusammenarbeit.
Die «Papa-Figur» Rudi Völler
Auch ohne Rudi Völler wäre der DFB wohl auf Nagelsmann als Bundestrainer-Kandidaten gekommen. Aber der Sportdirektor war die treibende Kraft, erst bei der Verpflichtung, dann bei der Vertragsverlängerung nach den erfolgreich März-Länderspielen. «Für uns war es ein Glücksfall, dass solch ein Top-Trainer auf dem Markt war, sagte Völler. Der 64-Jährige und der 28 Jahre jüngere Nagelsmann haben schnell einen Draht zueinander gefunden. «Rudi ist wie eine Papa-Figur, auch für mich als jungen Trainer, der mir die nötige Ruhe gibt», sagte Nagelsmann. Völler hat im Fußball alles erlebt. Dieser Erfahrungsschatz ist ein Geschenk.
Die Strippenzieher im Hintergrund
Nagelsmann ist Klient der Kölner Beratungsagentur Sports360. Gründer Volker Struth und Geschäftsführer Sascha Breese vertreten seine Interessen. Beim FC Bayern glauben sie, dass das Interesse des Rekordmeisters, Nagelsmann womöglich als Tuchel-Nachfolger zurückzuholen, gewinnbringend in den Vertragsverhandlungen mit dem DFB eingesetzt wurde. Interessant auch: Nagelsmann bewegte Toni Kroos zum DFB-Comeback. Der Real-Madrid-Star wird ebenso wie der Stuttgarter Turnierneuling Maximilian Mittelstädt von Sports360 beraten und gemanagt.
«First Lady» Lena Wurzenberger
Julian Nagelsmann ist der öffentlichste Bundestrainer. Anders als seine Vorgänger Klinsi, Jogi und Hansi, die ihre Partnerinnen eher versteckten, ist das bei Julsi ganz anders. Seine Lebensgefährtin Lena Wurzenberger fiebert bei den EM-Spielen nicht unauffällig, sondern unübersehbar im Deutschland-Trikot mit Nagelsmanns Kosename «Julsi» mit.
Nach den Partien küssen und umarmen sich beide im Stadion. Die Bilder sorgen für Aufsehen. Auch Nagelsmanns Schwester Vanessa und Mutter Burgi jubelten schon auf der Stadiontribüne mit.
Lena und Julian verband übrigens schon eine berufliche Beziehung vor der privaten Beziehung. Als er im Sommer 2021 beim FC Bayern anfing, war sie Bayern-Reporterin für die «Bild»-Zeitung. Seit der entflammten Liebe ist sie das natürlich nicht mehr. «Ich freue mich, dass sie im Stadion ist und - wie meine Familie auch - mich unterstützt. Das tut gut», sagte Nagelsmann. Von 2018 bis 2022 war er mit seiner Jugendliebe Verena verheiratet. Gemeinsam haben sie zwei Kinder.