Mit geschlossenen Augen hört der junge Angeklagte zu, wie er wegen Vergewaltigung eines sturzbetrunkenen Touristen in einem Münchner U-Bahnhof zu vier Jahren Jugendstrafe verurteilt wird. Ausführlich schildert der Richter den Missbrauch des damals 18-jährigen Polen, wägt Details ab, die auf den Bildern der Überwachungskamera nicht zu erkennen sind, thematisiert den massiven Rausch des Opfers zum Tatzeitpunkt im August vergangenen Jahres. Um dann zu dem Schluss zu kommen: «Es wurden hier sexuelle Handlungen am Geschädigten gegen den erkennbaren Willen des Geschädigten vorgenommen.»
Der Angeklagte habe sein offensichtlich in seinen Abwehrmöglichkeiten höchst eingeschränktes Opfer ohne jeglichen vorherigen Kontakt «quasi im Vorbeigehen» über die Dauer von gut einer halben Stunde begrapscht, ausgezogen und vergewaltigt - im Bewusstsein, dass zu jener nächtlichen Stunde keine U-Bahnen mehr fuhren und deshalb die Gefahr sehr gering war, dass jemand die Tat mitbekommen würde.
Videoaufnahme als zentrales Beweismittel
Weil der Angeklagte im Prozess zu den Vorwürfen schwieg, zog die Kammer neben einem DNA-Gutachten als zentrales Beweismittel die Videoaufzeichnungen vom Tatort heran - und die trotz der lückenhaften Erinnerung «durchgängig glaubhaften und mit den Aufnahmen übereinstimmenden» Angaben des Opfers. Der 18-Jährige habe keinen Sex mit dem Angeklagten gewünscht, zeigte sich der Richter sicher. «Ein Geschädigter, der die ganze Zeit versucht hat, in Ruhe gelassen zu werden und seinen Rausch ausschlafen zu dürfen - das ist das Bild, das primär dominiert hat.» Zu körperlicher Abwehr sei er aber in seinem regelrecht «hypnotischen Zustand» nicht mehr in der Lage gewesen.
Zusätzlich zu der Vergewaltigung hatte der Angeklagte dem Touristen auch noch das Handy gestohlen, bevor er floh - auch dieser Tatbestand floss in das Urteil ein. Das Opfer fuhr nach der Tat nach Hause und erstattete Anzeige. Der Mann konnte auch sein Handy orten, was die Ermittler zu dem Tatverdächtigen führte.
Alter des Angeklagten unklar
Unklar blieb vor Gericht das genaue Alter des Angeklagten. Während die Staatsanwaltschaft von 21 Jahren ausging und der Betroffene selbst zu Prozessbeginn angab, im Jahre 2005 geboren worden zu sein, ging die Große Jugendkammer nun davon aus, dass der junge Mann derzeit 20 Jahre alt ist - und die Tat somit als 19-Jähriger begangen hatte. Der Richter kam zu dem Schluss: Weil der «mit all seinen Habseligkeiten in einer Papiertüte durch die Innenstadt wandernde» Flüchtling zwar voll schuldfähig sei, aber in seiner Entwicklung bestimmte Reifeschritte unstreitig noch nicht durchlaufen habe, müsse er nach Jugendstrafrecht verurteilt werden.
Bei der Höhe des Strafmaßes folgte das Gericht der Anklage. Die Staatsanwaltschaft hatte für den Angeklagten eine Haftstrafe von sieben Jahren bei einer Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht und von vier Jahren im Falle einer Jugendstrafe gefordert. Die Verteidigung plädierte nur auf Strafbarkeit wegen des Diebstahls eines Mobiltelefons, lehnte aber eine Verurteilung wegen Vergewaltigung ab.
Diplomatische Verwicklungen
Der Fall hatte seinerzeit in Polen hohe Wellen geschlagen. Die damalige nationalkonservative PiS-Regierung in Warschau versuchte, im Wahlkampf vor der Parlamentswahl im Herbst 2023 politisches Kapital daraus zu schlagen. «Ein junger Pole ist in München Opfer einer Vergewaltigung durch einen Migranten aus Afghanistan geworden. Das sind die Folgen der Politik der offenen Grenzen», schrieb Ministerpräsident Mateusz Morawiecki auf der Plattform X, um die ablehnende Haltung seiner Regierung zur EU-Migrationspolitik zu unterstreichen. Die PiS-Regierung, die gerne auf antideutsche Töne setzte, bestellte sogar den Gesandten der deutschen Botschaft ein.
Die PiS verlor allerdings die Wahl. Seit Dezember 2023 wird Polen nun von einem Mitte-Links-Bündnis unter Donald Tusk regiert. Der Fall des jungen Polen in München ist mittlerweile in der Politik weitgehend in Vergessenheit geraten. Polnische Medien berichteten allerdings vor Kurzem über den Prozessauftakt.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Verteidigung wie Anklage können binnen einer Woche Revision beim Bundesgerichtshof einlegen. Derweil dauert die Untersuchungshaft des Verurteilten an.