Es sind elf Minuten, die auf einen langen Abschied einstimmen. Rund sechs Monate hat US-Präsident Joe Biden noch im Amt. Danach ist Schluss, eine mehr als ein halbes Jahrhundert andauernde Karriere in der Politik beendet.
Für den 81-Jährigen ist das kein freiwilliger Abgang. Das wird auch in der emotionalen Rede deutlich, die der Demokrat im Arbeitszimmer des Weißen Hauses, dem berühmten Oval Office, an die Nation richtet und die wie eine Abschiedsrede klingt. Er spricht ruhig, ernst, gibt sich staatsmännisch: Joe Biden formt sein politisches Erbe - und warnt vor Donald Trump, ohne seinen Namen ein einziges Mal zu nennen.
Biden klammerte sich an die Macht
Der Weg zu dieser wohl historischen Rede war unwürdig. Es dürfte ohne Frage eine Demütigung für den Demokraten gewesen sein, dass sich seine Partei in den vergangenen Wochen gegen ihn stellte. Dass ein ganzes Land darüber diskutierte, ob der 81-Jährige geistig in der Lage dazu sei, noch einmal als Präsidentschaftskandidat ins Rennen zu gehen. Dass jeder Versprecher, jedes falsch vom Teleprompter abgelesene Wort die Titelseiten bestimmte. So dürfte sich der Vollblutpolitiker Biden, ein stolzer Mann, das Ende seiner Karriere nicht vorgestellt haben.
Mit einem schnöden Schreiben gab er am Wochenende seinen Rückzug aus dem Präsidentenrennen bekannt. Veröffentlicht wurde es in den sozialen Medien. Auch seine Unterstützung für seine Stellvertreterin Kamala Harris verkündete er dort - ungewöhnlich für den Staatsmann Biden, der Wichtiges den Menschen im Land in der Regel in Ansprachen verkündet. Doch er saß mit einer Coronainfektion in seinem Haus in Rehoboth Beach fest, einige Hundert Meter entfernt der weite Atlantik. Seine Rede an die Nation im Weißen Haus ist nun eine Art Neustart. Biden will sein Vermächtnis retten.
Biden: Seele Amerikas steht auf dem Spiel
Der Demokrat verliert kein Wort über die Debatte der vergangenen Wochen - über seine Gesundheit, den Druck aus seiner Partei. Stattdessen sagt er, er wolle «den Staffelstab an eine neue Generation übergeben». Persönlicher Ehrgeiz dürfe nicht wichtiger sein als die Rettung der Demokratie. «Ich habe vor vier Jahren für das Präsidentenamt kandidiert, weil ich glaubte und immer noch glaube, dass die Seele Amerikas auf dem Spiel steht. Das Wesen dessen, was wir sind, stand auf dem Spiel. Und das ist immer noch der Fall.» Amerika, das sei eine Idee - und die sei stärker als Tyrannen oder Diktatoren.
Der Name Trump fällt in Bidens Rede nicht - doch der republikanische Präsidentschaftskandidat ist ohne Frage gemeint. Der Republikaner hat seine Wahlniederlage gegen Biden 2020 nie akzeptiert. Und er lässt auch jetzt keinen Zweifel daran, dass er nach der Wahl am 5. November nur ein Ergebnis akzeptieren werde, das ihm gefällt.
Wer mit den Trump-Anhängern auf dem Parteitag der Republikaner vergangene Woche in Milwaukee spricht, dem wird klar: Für diese Menschen steht fest, dass ein Sieg der Demokraten bei der Präsidentenwahl nur mit Wahlbetrug zu erklären sein werde. Sie bereiten sich darauf vor, ein ungeliebtes Wahlergebnis zu kippen. Auf dem Parteitag finden sich fast ausschließlich Trump-Anhänger. Die Republikaner sind Trumps Partei.
Trump will nicht «nett» sein
Der Kontrast zwischen Trump und Biden wird am Mittwochabend (Ortszeit) noch auf andere Weise deutlich. Der Republikaner spricht auf einer Wahlkampfveranstaltung in North Carolina kurz vor Bidens Rede. Und er ist nach dem Attentat auf ihn wieder ganz der Alte. «Man sagt, dass etwas mit mir passiert ist, als ich angeschossen wurde, ich wurde nett», sagt er. Aber das stimme nicht - er sei nicht nett. Was er damit meint, ist sofort klar. Trump beleidigt und erniedrigt seine politischen Gegner. «Es war keine gute Rede, das Aussehen, der Ton, die Stimme, alles», sagt der 78-Jährige am Donnerstag schließlich im Frühstücksfernsehen über Bidens Ansprache.
Biden redet häufig leise und nuschelt etwas. Auch bei der Rede im Oval Office stolpert er ein paar Mal über die Worte, die ihm der Teleprompter vorgibt. Aber er liefert einen soliden Auftritt ab. Der 81-Jährige dürfte auch darauf hoffen, dass seine Verhaspler in den kommenden Wochen in den Hintergrund rücken und das Land sich auf seine Vize und die wahrscheinliche Ersatzkandidatin der Demokraten Harris konzentriert. Biden selbst dürfte den Fokus darauf setzen wollen, seine politischen Ziele in der verbleibenden Zeit so weit wie möglich voranzutreiben.
Präsidenten sind keine Könige
Biden, jahrzehntelang für den Bundesstaat Delaware im US-Senat, Vizepräsident unter Barack Obama und schließlich selbst Präsident, hofft nun darauf, als selbstloser Anführer in Erinnerung zu bleiben, der für das Wohl der Nation abgetreten ist. Er sieht sich wohl in einer Tradition mit George Washington, dem ersten Präsidenten der USA. Dieser regierte das Land von 1789 bis 1797. Eine dritte Amtszeit lehnte er ab, er zog sich aus der Politik zurück. Auch Washington war damals nicht mehr ganz fit - und er wollte einen Punkt machen: Anders als die Könige in Europa, die auf dem Thron sterben, treten Präsidenten ab, wenn es so weit ist.
«George Washington hat uns gezeigt, dass Präsidenten keine Könige sind», sagt Biden in seiner Ansprache. Die Geschichte wird zeigen, was in der Erinnerung überwiegen wird. Bidens Rückzug - oder dass er wochenlang dazu gedrängt wurde.