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Experten: Schaden an Kinderklinik passt zu russischer Rakete

Schwere Zerstörungen und ein charakteristischer Marschflugkörper im Anflug: Die Fakten sprechen für einen russischen Angriff auf die Kinderklinik in Kiew, auch wenn Moskau das Gegenteil behauptet.
Ukraine-Krieg - Kiew nach Angriff auf Kinderkrankenhaus
Selbst 50 Meter von der Einschlagstelle entfernt sind schwere Zerstörungen zu sehen. (Archivbild) © Ukrinform/dpa

Die Ukraine und das UN-Menschenrechtsbüro machen einen russischen Marschflugkörper vom Typ Kh-101 (auch Ch-101) für die schweren Schäden an einem der wichtigsten Kinderkrankenhäuser Kiews verantwortlich. Doch in sozialen Medien und durch die russische Regierung wird ohne Belege eine andere Version verbreitet: Schuld soll die ukrainische Flugabwehr sein. Ist wirklich so unklar, was an der Kinderklinik Ochmatdyt in Kiew geschah? 

Behauptung

Eine ukrainische Flugabwehrrakete des Nasams-Systems ist nahe dem Kinderkrankenhaus in Kiew eingeschlagen. Russland kann also nicht für den Angriff verantwortlich sein.

Bewertung

Militärexperten widersprechen der Behauptung Moskaus: Derartige Zerstörungen könne eher ein russischer Marschflugkörper vom Typ Kh-101 anrichten. Ein solcher ist zudem in Videos des Raketeneinschlags zu erkennen. 

Fakten

In der ukrainischen Hauptstadt Kiew gab es am Morgen des 8. Juli mehrere Raketeneinschläge. Auch ein Gebäude am Ochmatdyt-Kinderkrankenhaus im Nordwesten der Stadt wurde getroffen, wie Fotos ukrainischer Behörden und unabhängiger Journalisten zeigen. Deutlich ist der Teil-Einsturz eines Nebengebäudes zu sehen. Die Wucht der Explosion beschädigte auch das etwas mehr als 50 Meter entfernt stehende Y-förmige Hauptgebäude.

Viele Fenster und Teile der Verkleidung der etwa zehnstöckigen Fassade wurden zerstört. Nach Einschätzung von drei Militärexperten passt dieser Schaden nicht zu der Behauptung, hier sei eine Flugabwehrrakete eingeschlagen, wie sie das ukrainische Nasams-Flugabwehrsystem verwendet.

Für das Nasams, ein von norwegischen und US-amerikanischen Rüstungskonzernen entwickeltes System, nutzt die Ukraine Flugabwehrraketen vom Typ AIM-120 AMRAAM. Sie besitzen einen Gefechtskopf von etwa 20 Kilogramm Gewicht. «Die AIM-120 AMRAAM ist eine Flugabwehrrakete, die dafür gedacht ist, Flugkörper abzuschießen. Der Gefechtskopf ist so designt, dass er neben dem Flugkörper explodiert, sodass die Splitter diesen treffen», sagt Markus Schiller der Deutschen Presse-Agentur. Der Experte für Raketentechnik lehrt an der Universität der Bundeswehr zu Fernflugkörpern und forscht am schwedischen Sipri-Institut, das unter anderem zur weltweiten Rüstung forscht.

Flugabwehrrakete verursacht geringere Schäden

Schillers Angaben zufolge durchlöchern die vielen Metallteile aus dieser Flugabwehrrakete gewissermaßen ihr Ziel. Ein solches Phänomen sei an der Klinik aber nicht sichtbar. «Wäre dort eine Flugabwehrrakete eingeschlagen, würde man viele kleine Krater oder Vertiefungen durch die Splitter am Einschlagsort sehen, kein halb eingestürztes Gebäude. Sie würde auch keine so große Druckwelle erzeugen», sagt Schiller. «Das Schadensbild zeigt eindeutig den Einschlag von etwas Größerem.»

Zur gleichen Einschätzung kommt auch Fabian Hoffmann, der an Universität Oslo zu Raketentechnik und Nuklearstrategie promoviert. Die Menge an tatsächlichem Sprengstoff in einem 20-Kilogramm-Gefechtskopf eines AIM-120 sei begrenzt. Dieser sei «niemals in der Lage, ein solches Ausmaß an Zerstörung zu verursachen», sagt Hoffmann der dpa. Das Schadensprofil passe zu einem Kh-101-Sprengkopf des russischen Marschflugkörpers, der insgesamt etwa 400 bis 450 Kilogramm wiegt.

Video zeigt Marschflugkörper kurz vor Einschlag

Vom Anflug der Rakete und dem Moment des Einschlags existieren mindestens zwei verschiedene Augenzeugen-Videos. Dass aus leicht unterschiedlichen Winkeln dieselbe Szene gezeigt wird, macht eine Manipulation äußerst unwahrscheinlich. Über die Fassade des Kinderkrankenhauses lassen sich die Videos eindeutig dem Ort des Angriffs zuordnen. 

Die Beschädigung von Fenstern im mehrstöckigen Hauptgebäude, das etwa 50 Meter vom Einschlagsort der Rakete entfernt ist, ein großer Feuerball und eine hohe Rauchfahne deuten nach Ansicht von Militärforscher Timothy Wright eher auf die Detonation eines großen als eines kleinen Sprengkopfes hin. «Aufgrund dieser Indikatoren ist es fast sicher, dass es sich bei der Rakete, die in das Kinderkrankenhaus von Ohmatdyt einschlug, um eine russische Kh-101 und nicht um eine ukrainische Nasams handelte», sagt der Wissenschaftler der Denkfabrik International Institute for Strategic Studies (IISS) der dpa.

Sieht man sich einzelne Bildausschnitte des Videos vom Anflug der Rakete genauer an, so ist am Heck ein dunkler, rechteckig wirkender Anbau zu erkennen. Wright erklärt, worum es sich dabei handelt: «Auf dem Video ist auch deutlich ein Motor unter der Raketenzelle zu sehen, ein Merkmal, das bei der Kh-101 vorhanden ist, nicht aber bei der Nasams, deren Feststoffmotor vollständig im Gehäuse der Rakete untergebracht ist.» Diese Beobachtung bestätigen neben den anderen beiden Militärexperten auch Recherchen der Investigativ-Plattform Bellingcat. 

Eigenschaften passen nicht zu Flugabwehrrakete

Während die Flugabwehrrakete spitz wie ein Dartpfeil geformt sei, hat die einschlagende Rakete aus den Videos eher die Silhouette eines abgerundeten Torpedos - wie der Kh-101-Marschflugkörper. «Nasams erreicht außerdem ein Mehrfaches der Schallgeschwindigkeit, während die Kh-101 viel langsamer ist, was mit der Geschwindigkeit der Rakete in den Aufnahmen übereinstimmt», so Wright. 

Auch das ukrainische Justizministerium hat Belege dafür veröffentlicht, dass eine russische Rakete das Krankenhaus getroffen hat. «Spezifische Konstruktionsbesonderheiten der gefundenen Trümmerteile und entsprechende typische Markierungen zeugen vom Einsatz eines strategischen Marschflugkörpers des Typs Kh-101», heißt es aus dem Justizministerium. Es seien insgesamt mehr als 30 Fragmente der Rakete gefunden worden, darunter Teile des Triebwerks und der Flügel. Zuvor hatte der ukrainische Geheimdienst SBU Fotos von Trümmerteilen einer Kh-101-Rakete vorgelegt. 

© dpa ⁄ Veronika Völlinger, dpa
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