Trainer-Legende Arrigo Sacchi nannte es «einen Weckruf», im Land des kommenden Achtelfinal-Gegners hält sich die Angst vor dieser Squadra Azzurra in Grenzen. Mit seinem mühsamen Einzug in die K.o.-Runde der Fußball-EM hat Titelverteidiger Italien das Schlimmste verhindert.
Nach dem 1:1 dank eines Treffers in der achten und letzten Minute der Nachspielzeit sah Coach Luciano Spalletti aber den Zeitpunkt für eine Abrechnung mit Nörglern und Zweiflern gekommen.
«Kann die Kritik nicht akzeptieren»
Nachdem er zuvor auch gefragt worden war, was passiere, wenn Italien ausscheiden würde, sagte er am späten Montagabend im Leipziger Stadion: «Was ist das für eine Frage? Ich werde auch gefragt, ob ich Angst habe. Wenn ich die hätte, würde ich wie Sie ins Stadion gehen und mir die Spiele anschauen. Ich kann mir die Karte ja leisten. Ich bekäme das Ticket aber auch umsonst.» Die deutliche Kritik an seiner Mannschaft «kann ich nicht akzeptieren», sagte er.
Die Leistung zuvor gegen die Kroaten gab den Kritikern aber erneut nicht wenige Vorlagen. Mutlos wirkte die Mannschaft gegen den kämpferischen WM-Dritten, auch ideenlos. Selbst wenn nach einer ersten starken Szene der Kroaten die besseren Chancen zunächst bei den Italienern lagen, die dann aber durch Luka Modrics Treffer (55. Minute) in Rückstand gerieten. Ein mögliches Aus in der Vorrunde drohte, ehe Mattia Zaccagni die Italiener nach dem 0:1 gegen Spanien in einer immerhin überzeugenderen Schlussphase vor der zweiten Pleite nacheinander bewahrte.
«Zerbrechliche» Italiener
«Italien ist der Titelverteidiger, der Europameister von 2021, ein Schwergewicht im Weltfußball - doch fürchten muss sich die Mannschaft von Murat Yakin nicht, das hat auch der dritte Auftritt an diesem Turnier gezeigt», schrieb der «Tagesanzeiger» am Dienstag aus der Schweiz. Die Eidgenossen und Italien-Nachbarn sind der Achtelfinal-Gegner am kommenden Samstag im Berliner Olympiastadion, wo die Azzurri vor 18 Jahren Weltmeister geworden waren.
An den EM-Titel brauchen sie nach den bisherigen Vorstellungen noch nicht zu denken. Als «zerbrechlich» bezeichnete «La Repubblica» die Italiener. Ein Weiterkommen «mit dem letzten Atemzug, als nur noch die unerschütterlichsten Optimisten daran geglaubt hatten», schrieb der «Corriere dello Sport».
Spalletti selbst jubelte nach dem sehenswerten Ausgleich mit dem Ex-Weltmeister und jetzigen Teammanager Gianluigi Buffon entfesselt wie selten. Die Last war riesig, das wurde sichtbar. Ein mögliches frühes Scheitern der Italiener nach den verpassten WM-Endrunden 2018 und 2022 wäre ein weiterer Tiefpunkt im Land der Tifosi geworden, der Glanz des EM-Titels 2021 mit einem Schlag verblasst.
Spalletti-Antwort so lange wie die Nachspielzeit
«Wir haben Spieler, die die Qualität haben, diese Spiele zu spielen. Aber wir machen Fehler, die zu trivial sind. Wir sind besser als das, was wir gesehen haben», sagte Spalletti unmittelbar nach der Partie gegen die Kroaten vor den TV-Kameras: Er erwarte mehr von seinen Spielern.
Als er dann zu mitternächtlicher Stunde im Presskonferenzraum des Leipziger Stadions Platz nahm, verteidigte er eben diese Spieler wie auch sich selbst und seine Personalentscheidungen vehement. Angesprochen auf eine angebliche Abmachung mit der Mannschaft unter der Woche mit Blick auf die Startelf, redete er sich in Rage - und sprach gleich mal in etwa so lang wie die durchaus etwas überraschend lange Nachspielzeit dauerte.
«Weiter ohne Ruhm»
«Wie alt sind Sie?», entgegnete der Trainer dem Fragesteller mit deutlich erhöhter Lautstärke und womöglich auch erhöhtem Puls. «51. Ich bin 65. Ich bin 14 Jahre älter. Ich suche immer das Gespräch mit meinen Spielern. Ich muss meinen Spielern Gehör schenken. Und was ist daran falsch, wenn die Startaufstellung das Ergebnis von Gesprächen war?»
Überzeugend trat seine Mannschaft jedenfalls nicht auf. Darin waren sie sich auch in der Heimat einig. «Weiter ohne Ruhm», schrieb La Gazzetta dello Sport»: «Es ist gut, dass Schöne dieser Nacht zu nennen: Den Einzug in die nächste Runde, den Charakter der Mannschaft und dass der Traum weitergeht. Aber es wäre falsch und kontraproduktiv, alles andere zu leugnen.»