Sie hüpfen im nächsten Holland-Urlaub nach der Aufforderung, ein Stück nach links zu rücken, reflexartig wieder nach rechts? Kein Problem! Sie denken während einer völlig losgelösten 80er-Party plötzlich an den zufriedenen Bundestrainer Julian Nagelsmann? Ebenfalls normal! Schuld an den neuen Marotten sind dann die ersten zehn Tage der Fußball-EM mit erstaunlicher Stimmung. Steckt Deutschland schon im Sommermärchen 2.0?
Am Sonntagabend verfolgten weit über 100.000 Menschen auf den Fanmeilen der Städte das Deutschland-Spiel gegen die Schweiz. Riesige Fahnen, schwarz-rot-goldene Schminke, pinkfarbene Trikots - nach Jahren der Turniertristesse während Corona und weit weg in Katar wieder völlig normal. «Das ist ein schönes Gefühl», sagte Nagelsmann. Der Nationalmannschaft werden ab und an Zusammenschnitte der Party in den Fanzonen vorgespielt.
Über 25 Millionen Menschen vor den Bildschirmen
Das 1:1 mit dem späten Tor von Niclas Füllkrug, das mit jenem stimmungslösenden Treffer von Oliver Neuville beim Sommermärchen 2006 im zweiten Gruppenspiel gegen Polen verglichen wurde, verfolgten allein in der ARD im Schnitt 25,566 Millionen Menschen. Weit über ein Viertel der deutschen Bevölkerung - völlig normal?
In Zeiten von Kriegen und Krisen war vor dem Turnier nicht unbedingt mit dem größten Zuspruch zu rechnen gewesen. Bilder der WM 2006 schienen aus der Zeit gefallen, erst recht, weil nationale Feierei in den vergangenen Jahren von Rechten okkupiert worden war. Und jetzt: «Während wir uns in Europa über alles und jeden streiten, ist die EM erst einmal ein Sommer der Liebe, wie die Deutschen so schön sagen», schrieb die niederländische Regionalzeitung «De Twentsche Courant Tubantia».
«Naar links! Naar rechts!»
Die Oranje-Fans zogen vor ihren EM-Partien durch die deutschen Städte und sangen fast schon hypnotisch ihr «Naar links! Naar rechts!». Auch von internationalen Medien wurden die Fanmassen als Referenz genommen im ewig schiefen Vergleich zur WM 2022 in Katar. Gefeiert worden war am Golf kaum von europäischen Anhängern, was hierzulande weiterhin in schlechter Erinnerung ist.
Für die EM-Organisatoren sind die Bilder der großen Menschenmassen beispielsweise am Brandenburger Tor, auf dem Hamburger Heiligengeistfeld oder am Mainufer eine Art beruhigende Bestätigung. «Wir haben lange daran gearbeitet, damit wir diese Feste so erleben, dass man so ein positives Gefühl hat, sich positiv begegnet, sich versteht», sagte Turnierchef Philipp Lahm in Leipzig.
Für ihn sei immer klar gewesen: «Sobald der Ball rollt, gibt es diese Euphorie.» Seine Verspätung mit der Deutschen Bahn hatte der Weltmeister von 2014 zuletzt gelassen hingenommen.
Die infrastrukturellen Mängel im Land wurden in den EM-Tagen überdeutlich, sie wurden aber nicht zum Partycrasher. Die Europäische Fußball-Union UEFA gibt offiziell eine Vollauslastung der EM-Stadien an, nach erfolgreichen deutschen Spielen mit einem lächelnden Nagelsmann wird Peter Schillings großer 80er-Jahre-Hit «Major Tom» in der jeweiligen Arena gespielt.
Bislang keine nennenswerten Zwischenfälle
Zur Wahrheit der - frei nach dem 68 Jahre alten Sänger - völlig losgelösten Stimmung gehört auch, dass es sowohl in den Stadien als auch in den Fanzonen bislang kaum nennenswerte Zwischenfälle gab. Die Polizei ist mit Großaufgeboten im Einsatz, das Deutsche Rote Kreuz zog für die ersten EM-Tage ein positives Zwischenfazit. Hässliche Plakate und Gesänge mit rechtsnationalem Inhalt kamen zwar vor - aber nicht in Massen mit größerer internationaler Beachtung.
Der englische «Guardian» veröffentlichte eine Fotoreihe mit Motiven «abseits der Action», die auch das friedliche Miteinander von Fangruppen zeigen. «Die Fußballfans aus den unterschiedlichsten Nationen sorgen für eine einmalige und außergewöhnliche Atmosphäre in der Stadt», teilten die Organisatoren der Kölner Fanzonen mit.
Steigerung möglich
Was zusätzlich hilft: Das Wetter in Deutschland wird besser. Der Deutsche Wetterdienst teilte bei X das «UEFAEuro2024»-Wetter für die Spiele in Düsseldorf und Leipzig mit. Vorhergesagt wurden «angenehme Temperaturen» zum Anpfiff.
«Wir wünschen uns natürlich, dass Deutschland weit kommt, dass das Wetter nun sommerlich bleibt», schrieben die Fanzonen-Organisatoren in Hamburg. Denn noch scheint Luft nach oben: Bei der Vor-Corona-EM 2016, bei der die DFB-Auswahl im Halbfinale ausschied, waren noch deutlich mehr Menschen auf den Straßen unterwegs. Nach dem 0:2 der DFB-Auswahl gegen Gastgeber Frankreich war die Party dann aber schnell vorbei.