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«Thüringer Innovation»: Voigt mit Linke-Hilfe Regierungschef

Ein CDU-Politiker, dem die Linke ins Ministerpräsidentenamt verhilft, und viel Lob für eine neue demokratische Gemeinsamkeit im Parlament. Wird Thüringen zum Präzedenzfall für neue Mehrheiten?
Bodo Ramelow und Mario Voigt
Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten
Landtag Thüringen
Landtag Thüringen

Die befürchtete Zitterpartie blieb aus: Thüringens Landtag hat CDU-Landeschef Chef Mario Voigt zum Ministerpräsidenten gewählt - obwohl seine bundesweit einzigartige Brombeer-Koalition aus CDU, BSW und SPD keine Mehrheit hat. Ausgerechnet die Linke, deren langjährigen Regierungschef Bodo Ramelow der 47-Jährige ablöst, verhalf Voigt bereits im ersten Wahlgang ins Amt. 

Der bisher beispiellose Vorgang ist einem Patt im Landtag und einer außerordentlich starken AfD mit ihrem Rechtsaußen Björn Höcke geschuldet - und nicht zuletzt auch dem Debakel von 2020, als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich durch AfD-Stimmen ins Amt des Ministerpräsidenten kam und wenige Tage später wieder zurücktrat,

Die Wahl wirft aber auch Fragen auf: Wie hält es die CDU mit ihrem Unvereinbarkeitsbeschluss, also mit ihrer klaren Absage an eine Zusammenarbeit mit der Linken - in einem ostdeutschen Landtag mit so schwierigen Mehrheitsverhältnissen wie in Thüringen? Und: Ist die Zeit für ungewöhnliche Mehrheiten reif? 

Die Brombeer-Koalition, die nicht nur mit einem Brombeerstrauch vom BSW für den neuen Regierungschef gefeiert wurde, verfügt im Landtag in Erfurt über 44 von 88 Stimmen - ein Patt. Für die Wagenknecht-Partei ist die Koalition in Thüringen nach Brandenburg bereits der zweite Einstieg in eine Landesregierung im Jahr der Parteigründung.

Fiasko wie 2020 blieb aus

Voigt konnte seine Wahl, die nur wenige Minuten nach Beginn der Landtagssitzung erfolgte, selbst kaum fassen: 51 Abgeordnete stimmten für den promovierten Politikwissenschaftler. 33 votierten gegen ihn, vier enthielten sich. Eigentlich waren nur 45 Ja-Stimmen nötig. Wegen der geheimen Abstimmung in Wahlkabinen blieb offen, ob auch Stimmen von der AfD kamen. 

Es ist seit Jahren das erste Mal, dass in Thüringen ein Ministerpräsident im ersten Wahlgang gewählt wurde. Im Jahr 2020 war die Ministerpräsidentenwahl zum Fiasko geraten. Damals stimmte die AfD statt für ihren Kandidaten für den FDP-Politiker Kemmerich. Der nahm die Wahl an, bevor er nach Protesten und öffentlichem Druck drei Tage später wieder zurücktrat.

Keine Tolerierung, keine Mehrheiten mit der AfD

Es gebe einen «Geist der Zusammenarbeit und einer neuen politischen Kultur», sagte Voigt in seiner Antrittsrede als Regierungschef, in der er ausdrücklich auch seinem Vorgänger Ramelow dankte. «Ich weiß das auch zu schätzen, dass das heute eine Wahl im ersten Wahlgang gewesen ist.» Ramelow bestätigte auf Nachfrage, dass er zu den Voigt-Wählern im Landtag gehörte.  

Möglich wurde das, weil Deutschlands erste Brombeer-Koalition in letzter Minute noch vor der Landtagssitzung eine Vereinbarung mit der Linken getroffen hatte, damit der Wahlausgang nicht von der AfD abhängig ist. «Die AfD darf keine Bühne bekommen», begründete der Thüringer Linke-Fraktionschef Christian Schaft die Entscheidung. 

Die Verabredung bedeute keine Tolerierung. Vielmehr gebe es ein offizielles Gesprächsformat, um zu «demokratischen Mehrheiten zu kommen». Linke-Chefin Ulrike Grosse-Röthig verlangte, dass die Vereinbarung, die gegenseitige Erpressungsversuche mit Hilfe von AfD-Stimmen ausschließt, in der gesamten fünfjährigen Legislaturperiode gilt.

Experte: Unvereinbarkeitsbeschluss aufgehoben

Mit der Regierungsbildung startet in Thüringen ein bundesweit neues Experiment der parlamentarischen Zusammenarbeit. Auch nach Meinung von Experten handelt es sich nicht um eine Tolerierung. Das Thüringer Konstrukt sei schon deshalb keine Tolerierung, weil es um die Bildung von Mehrheiten mit der Linken nur in Einzelfällen gehe, sagt der Erfurter Politikwissenschaftler André Brodocz. 

Der Bochumer Politologe Oliver Lembcke spricht von einer «Thüringer Innovation». Der Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU zur Linken sei damit faktisch aufgehoben. Dieser beziehe sich auf eine strategische Koordinierung mit Links oder Rechts. «Das scheint mir eine gesteigerte strategische Koordinierung zu sein», sagte Lembcke zum Thüringer Mechanismus. Die Linke habe damit faktisch eine «Veto-Position».

CDU-Chef Friedrich Merz gratulierte seinem Parteifreund Voigt auf der Plattform X: «Unter sehr schwierigen Bedingungen und ohne Zugeständnisse in den Grundsatzfragen unserer Politik ist es der CDU gelungen, in Thüringen nach über fünf Jahren des Stillstandes wieder eine Regierung zu bilden.»

Das politische Handwerk von der Pike auf gelernt 

Voigt ist Deutschlands jüngster Ministerpräsident. Er ist in Thüringen geboren, lebt mit Frau und zwei Kindern in Jena und ist ein erfahrener Landespolitiker - seit 15 Jahren sitzt er im Parlament in Erfurt. Seine Koalitionspartner bescheinigen ihm, die Verhandlungen konstruktiv und beharrlich geführt zu haben, ein Vertrauensverhältnis zwischen den ungleichen Partnern sei entstanden. 

Das politische Geschäft hat Voigt von der Pike auf gelernt: Mit 17 klopfte er bei der CDU an, er wurde Landesvorsitzender der Jungen Union und später CDU-Generalsekretär, unternahm aber auch Ausflüge in die Wirtschaft und die Wissenschaft. Kurz nach der Thüringer Regierungskrise 2020 wurde Voigt Fraktions- und Parteichef.

Linke-Fraktionschef Schaft machte bereits klar, dass die Linke bei bestimmten Brombeer-Vorhaben in der Migrationspolitik mit Nein stimmen werde - etwa bei der Schaffung von Abschiebe-Haftplätzen. Der Erfurter Politologe André Brodocz meint, dies könnte zu einem großen Problem für die neue Koalition werden. «Sie hätte dann ohne die AfD keine Mehrheit für ihre migrationspolitischen Vorstellungen.» Man müsse aber abwarten, ob die Linke bei diesen Themen geschlossen zusammenhalte. 

Der Politikwissenschaftler Lembcke geht noch weiter: «Wenn sie es mit der AfD machen, ist die Brombeere tot, weil die SPD austreten wird. Wenn sie es nicht mit der AfD machen, können sie es nicht machen.»

© dpa ⁄ Simone Rothe und Stefan Hantzschmann, dpa
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