Fast 300 Opfer listet die Anklage auf, ihr Durchschnittsalter betrug 11 Jahre. Die erschütternde Tragweite des Prozesses um hundertfachen Missbrauch gegen einen Chirurgen in Frankreich wird gleich zum Auftakt im Gerichtssaal spürbar, als ein junger Mann an das Mikrofon tritt. «Ich erinnere mich in Teilen an die Taten im Aufwachsaal und wie ich in Panik nach meinem Vater rief», sagt der Mann mit langem Bart mit klarer Stimme. Zu dem Missbrauch an ihm kam es der Anklage zufolge 1995, als kleines Kind war er damals Patient des Arztes, den Justizwärter kurz zuvor zur Anklagebank geführt haben.
Über Jahrzehnte soll der Chirurg in Westfrankreich junge Patienten - oft während der Narkose - missbraucht und darüber akribisch Tagebuch geführt haben. Wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs von 299 meist minderjährigen und bewusstlosen Patienten steht der heute 74-Jährige im westfranzösischen Vannes vor Gericht. Zwischen 1989 und 2014 soll er insgesamt 158 Patienten und 141 Patientinnen missbraucht haben.
Nach der Verlesung der Anklage und der Namen aller Opfer legt der 74-Jährige ein Geständnis ab. «Ich habe abscheuliche Taten begangen», sagt der unscheinbar wirkende Rentner mit gesenktem Kopf. «Mir ist heute klar, dass diese Verletzungen nicht weggewischt werden können und auch nicht reparierbar sind», meint der Mediziner, dem die Anklage vorwirft, zwischen 1989 und 2014 insgesamt 158 Patienten und 141 Patientinnen missbraucht zu haben. «Ich muss die Verantwortung für meine Taten tragen und die Konsequenzen für die Opfer, die sie ihr Leben lang haben werden.»
Staatsanwaltschaft: Missbrauch an bewusstlosen Kindern im OP
Zum Zeitpunkt des vorgeworfenen Missbrauchs befanden sich viele Opfer etwa nach einer Blinddarmoperation im Operationssaal, in der Phase der Anästhesie, des Aufwachens, der Sedierung oder des Einschlafens, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. Sie waren sich des Missbrauchs somit nicht wirklich bewusst und konnten den Arzt später auch schwer anzeigen. Er soll seine Opfer mit den Händen penetriert und seine Handlungen oft als medizinische Untersuchung kaschiert haben, hieß es in der Anklageschrift.
Angeklagter führte über Missbrauch akribisch Buch
Den jahrzehntelangen Missbrauch hielt der Arzt detailreich in Tagebüchern fest, die Fahnder bei einer Durchsuchung sicherstellten, ebenso wie rund 300.000 kinderpornografische Fotos und Puppen. In den Tagebüchern war auch die Rede von sexuellen Handlungen an Puppen und Tieren.
In 111 Fällen wird dem Arzt schwere Vergewaltigung angelastet, so die Staatsanwaltschaft. Gutachter stellten bei den Opfern posttraumatische Syndrome, Blockaden und körperliche Beschwerden infolge psychologischer Belastungen fest. Teils traten diese auch erst ein, nachdem die Ermittler die Opfer aufsuchten und ihnen offenbarten, dass sie in ihrer Kindheit Missbrauchsopfer geworden waren.
Wegen vier Missbrauchsfällen war der Arzt 2020 bereits zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Ins Rollen gebracht hatte die Ermittlungen 2017 die Anzeige einer Nachbarin, deren sechsjährige Tochter der Arzt im Garten missbrauchte. 2005 schon war der Mediziner wegen des Besitzes kinderpornografischer Bilder zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, ohne dass dies disziplinarische Konsequenzen für seine Tätigkeit als Arzt hatte.
Kaum ein Kollege in der Klinik schöpfte Verdacht
Wieso das Tun des Arztes in den vielen Jahren nicht in einer der Kliniken auffiel, wo er arbeitete - auch dieser Frage gingen die Ermittler nach. Wie die Zeitung «Le Monde» unter Verweis auf die Ermittlungen berichtete, hatte von den rund 100 befragten Kollegen des Angeklagten keiner einen konkreten Verdacht. Lediglich zwei Ärzten kam der Chirurg komisch vor - Hinweise darauf an höherer Stelle blieben aber ohne Reaktion. Auch seine Ex-Frau will von dem fortgesetzten Missbrauch erst bei der Festnahme ihres früheren Gatten erfahren haben.
Irgendwelche Skrupel angesichts seiner Taten hatte der Chirurg wohl nicht. «Während ich meine Morgenzigarette rauchte, dachte ich darüber nach, dass ich ein großer Perverser bin», zitierte «Le Monde» einen Tagebucheintrag des Angeklagten aus dem Jahr 2004. Er sei Exhibitionist, Voyeur, Sadist, Masochist, Fetischist und Pädophiler. «Und ich bin sehr glücklich damit.»
Riesenprozess mit Hunderten Beteiligten
Um die dem Arzt angelasteten Taten im bislang wohl größten Prozess in Frankreich um Kindesmissbrauch aufzuarbeiten, wurden in der Provinzstadt Vannes eigens Gebäude in der Nähe des Gerichts mit Millionenaufwand hergerichtet. Sie müssen den knapp 300 Opfern und ihren Anwälten Platz bieten. 265 Journalisten haben sich für den Prozess angemeldet. Das Verfahren soll bis Juni dauern. Dem pensionierten Arzt drohen bis zu 20 Jahre Haft.
Das Gerichtsverfahren in Westfrankreich ist der zweite große Missbrauchsprozess in Frankreich binnen einiger Monate. Kurz vor Weihnachten war der Prozess von Avignon geendet. Wegen schwerer Vergewaltigung zu 20 Jahren Haft verurteilte das Gericht einen Rentner, der seine damalige Frau über Jahre hinweg immer wieder mit Medikamenten betäubte, missbrauchte und von Dutzenden Fremden vergewaltigen ließ. 50 mitangeklagte Männer verurteilte das Gericht zu Haftstrafen zwischen 3 und 15 Jahren.