Machtwechsel in den USA, Ampel-Koalition geplatzt und Meinungsverschiedenheiten in den Hauptstädten der EU: Angesichts der ungewissen Zukunft im Krieg mit Russland hat die Ukraine einen Appell an ihre europäischen Verbündeten gerichtet. Schon aus eigenem Interesse müssten sie für Einheit und Stabilität sorgen, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner abendlichen Videobotschaft. Im Anschluss an das Gipfeltreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Budapest hatte es in Kiew fieberhafte Beratungen und Konferenzen über die künftige Strategie in Kriegszeiten gegeben.
«Generell sollte die Entwicklung der europäischen Politik für die nächste Zeit gemeinsam und koordiniert erfolgen und unsere Partnerschaft in Europa und dem euro-atlantischen Raum direkt unterstützen», sagte Selenskyj. «So wie die globalen Angelegenheiten ohne ein starkes Amerika im Niedergang begriffen sind, so ist ohne ein starkes Europa Stabilität für die europäischen Nationen einfach unmöglich.»
Seine Regierung muss nach dem Sieg Donald Trumps bei der Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten befürchten, dass die militärische Unterstützung der USA drastisch nachlassen oder gar eingestellt werden könnte. Seit Kriegsbeginn im Februar 2022 sind die USA mit ihren Waffenlieferungen und der finanziellen Hilfe für die Ukraine deren wichtigster Verbündeter im Abwehrkampf gegen die russische Invasion. Erste Kontakte Selenskyjs mit Trump in den vergangenen Tagen ließen zunächst keine klare Linie des künftigen US-Präsidenten nach seiner Vereidigung im Januar des kommenden Jahres erahnen.
Der scheidende US-Präsident Joe Biden bekräftigte nach dem russischen Überfall stets, man werde der Ukraine so lange wie nötig helfen, die Aggression des Nachbarlandes abzuwehren. Trump kündigte hingegen ein rasches Ende des Krieges an. Da der Republikaner bisher nicht erläutert hat, wie er das erreichen will, gibt es Befürchtungen, dass er dem russischen Präsidenten Wladimir Putin trotz des vom Kreml angeordneten Angriffskriegs erhebliche Zugeständnisse machen könnte.
Musk bei Telefonat Selenskyjs mit Trump dabei
Neben der Unterstützung des wohl mächtigsten Mannes der Welt ist auch die des reichsten Menschen von Bedeutung für Selenskyj. Elon Musks Firma SpaceX stattete die ukrainischen Truppen nach der russischen Invasion mit Terminals für das von ihr entwickelte Satelliten-Kommunikationssystem Starlink aus, um die von den Angreifern zerstörte Mobilfunk-Infrastruktur zu ersetzen. Nun war der Tech-Milliardär laut Medienberichten auch bei Selenskyjs Telefonat mit Trump dabei.
Musk habe dem ukrainischen Präsidenten zugesichert, das Starlink-System werde auch weiterhin für die Ukraine nutzbar sein, schrieb die US-Nachrichtenseite «Axios». Der «New York Times» zufolge übergab der designierte US-Präsident den Hörer zwischenzeitlich an Musk, der sich in Trumps Anwesen Mar-a-Lago aufhielt. Das «Wall Street Journal» schrieb, Musks Teilnahme an dem Telefonat sei nicht geplant gewesen - aber er sei in den Raum gekommen, während Trump und Selenskyj sprachen.
«Axios» schrieb unter Berufung auf informierte Quellen, Selenskyj habe insgesamt das Gefühl gehabt, das Gespräch mit Trump und Musk sei gut für die Ukraine verlaufen. Das Telefonat habe beim ukrainischen Präsidenten «kein Gefühl der Verzweiflung hinterlassen».
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock, eine entschiedene Unterstützerin der Ukraine, führte am Donnerstag ebenfalls ein Telefonat - mit US-Außenminister Antony Blinken. In dem Gespräch ging es nach Angaben eines Sprechers von Blinken darum, die weiteren Schritte bei der Unterstützung der Ukraine zu koordinieren - mit dem Ziel, dem Land einen Weg zum Sieg zu ebnen. Auch die Unterstützung der russischen Streitkräfte durch Soldaten aus Nordkorea sei thematisiert worden, hieß es.
Spekulation über Putins nächste Schritte
Nach Trumps Wahlsieg sendete Kremlchef Putin laut dem Wirtschaftsmagazin «The Economist» widersprüchliche Signale zu seinem weiteren Kriegskurs, die informierten Kreisen zufolge von Verhandlungsbereitschaft bis hin zur erzwungenen Kapitulation der Ukraine reichten. Ein schneller Weg zum Frieden sei jedoch unwahrscheinlich, hieß es unter Berufung auf Putins Umfeld. Ukrainische Militärs rechneten mit einer Fortsetzung des Angriffskriegs, da sich Russland auf der Siegerstraße wähne.
Neue Kämpfe erschüttern die Ostukraine
Russische Angreifer und ukrainische Verteidiger liefern sich derweil weiter schwere Kämpfe entlang der Fronten im Osten der Ukraine. Nach Angaben des Generalstabs in Kiew gab es im Laufe des Freitags 114 russische Angriffe. «Der Feind setzt alle verfügbaren Kräfte und Mittel ein, um seine Ziele zu erreichen», hielt die Armeeführung in ihrem Lagebericht fest. «Die Verteidigungskräfte handeln professionell und effizient und fügen dem Feind erhebliche Verluste zu.»
Brennpunkte waren den Angaben zufolge einmal mehr die Regionen um Pokrowsk und Kurachowe, wo russische Einheiten die ukrainischen Verteidigungslinien zu durchbrechen versuchten. An den anderen Abschnitten dauerten die heftigen Kämpfe an. Ein genauer Überblick von unabhängiger Seite war nicht möglich.
In der Nacht gab es zudem erneut Luftangriffe auf ukrainische Städte. In der Hafenstadt Odessa wurden nach Angaben des Stadtrats mehrere Hochhäuser, Lagerhallen sowie Verwaltungsgebäude beschädigt und Autos in Flammen gesetzt. Explosionen und Schäden an ziviler Infrastruktur gab es außerdem in der Stadt Charkiw, wie Bürgermeister Ihor Terechow auf seinem Telegram-Kanal mitteilte.
Washington erlaubt Arbeit von Rüstungspersonal in der Ukraine
Zur Unterstützung der Verteidiger erlaubt die US-Regierung einer «kleinen Zahl» von US-Rüstungsunternehmen den Einsatz von Personal in der Ukraine. Aktuell laufe die Ausschreibung für diese Aufträge, bestätigte ein Vertreter des Verteidigungsministeriums in Washington der Deutschen Presse-Agentur. «Diese Auftragnehmer werden weit von der Front entfernt sein und nicht gegen russische Streitkräfte kämpfen», betonte er. «Sie werden den ukrainischen Streitkräften helfen, die von den USA gelieferte Ausrüstung bei Bedarf schnell zu reparieren und zu warten, damit sie zügig wieder an die Front zurückgebracht werden kann.»
Zur Begründung sagte er, dass bestimmte Waffensysteme - wie etwa F-16-Kampfjets und Patriot-Luftverteidigungssysteme - eine spezielle technische Expertise erforderten. Das Pentagon habe die Entscheidung «nach einer sorgfältigen Risikobewertung und in Abstimmung mit beteiligten Stellen» getroffen.