Die Latenz, also die Laufzeit eines Signals in einem technischen System, ist je nach System unterschiedlich. Otto Normalverbraucher kennt das vielleicht vom Elfmeterschießen. Nebenan verfügt der Nachbar über ein hochmodernes TV-Kabel und jubelt schon darüber, dass der Ball gehalten wird, während man selbst das TV-Signal über den Live-Stream empfängt und der Schütze noch nicht mal angelaufen ist.
Störungen schon durch minimale Latenzen
Während man darüber als Fußballfreund vielleicht noch lachen kann, ist die Latenz in der Telekommunikation ein echtes Problem. Selbst minimale Datenverzögerungen von 100 Millisekunden sorgen für ungleiche Voraussetzungen beim Online-Gaming oder eine verzerrte Kommunikation bei der wichtigen Video-Konferenz mit dem Kunden über Microsoft Teams.
Noch gravierender sind diese Latenzen im medizinischen Bereich, wo zwar immer mehr Eingriffe über Fernsteuerung stattfinden, aber aufgrund der Verzögerungen immer noch mit einem gewissen Risiko verbunden sind. Auch beim autonomen Fahren können geringfügige Verzögerungen innerhalb des Datenübertragungsnetzes im Extremfall über Leben und Tod entscheiden.
Bislang graue Theorie
Bereits seit mehreren Jahren sucht die Telekommunikations-Branche deshalb nach Lösungen, die nicht nur das Gaming und die Kommunikation per Video erleichtern, sondern auch Zukunftsanwendungen wie Telemedizin und autonomes Fahren zu einer sicheren Angelegenheit machen. Seit dem Jahr 2021 geistert nun das Verfahren „Low Latency Low Loss Scalable“, kurz L4S, durch die Branche.
Der Mechanismus wurde in der sogenannten Internet Engineering Task Force, in der viele Netzbetreiber wie z.B. Vodafone und Netzwerkkomponenten-Hersteller wie Nokia oder Ericsson vertreten sind, standardisiert. Doch erst einmal blieb der Ansatz, die Latenzzeiten in Mobilfunk und Festnetz drastisch zu reduzieren, graue Theorie.
Erster Durchbruch
Nokia Bell Labs meldet nun den ersten gelungenen Feldversuch unter realitätsnahen Bedingungen. Die renommierte Nokia-Tochter hat nach eigenen Angaben die weltweit erste L4S-Ende-zu-Ende-Demonstration durchgeführt. Genutzt wurden dabei ein handelsüblicher Rechner sowie ein FTTH-Glasfaseranschluss in einem Testzentrum der Vodafone Group im britischen Newbury.
FTTH steht für „Fibre to the Home“, d.h. die Glasfaser lag bis an die Telefonbuchse an, mit der der Computer verbunden war. Diese Technologie, die hohe Übertragungsraten gewährleistet, ist in Deutschland leider noch nicht flächendeckend verfügbar. Meistens liegt Glasfaser hierzulande bis zu einem Übergabepunkt unter dem Haus oder am Grundstück. Die sogenannte „letzte Meile“, also das letzte Stück zwischen diesem Übergabepunkt und der Telefonbuchse, besteht hingegen immer noch allzu oft aus Kupferkabel.
Nichtsdestotrotz ist FTTH eine bereits bewährte Technologie. Deshalb können Nokia und Vodafone auch behaupten, bei einem Feldversuch unter realen Bedingungen die Übertragungsverzögerung deutlich verkürzt zu haben. „Über eine maximal ausgelastete WLAN-Breitbandverbindung verringerte sich die Zugriffszeit auf eine Internet-Seite von 550 auf zwölf Millisekunden“, so die beiden Unternehmen in einer gemeinsamen Mitteilung. „Die Latenz reduzierte sich sogar auf nur noch 1,05 Millisekunden, wenn anstelle von WLAN ein Ethernet-Kabel verwendet wurde."
Niedrige Latenz in belastetem Netz
Frühere Versuche mit L4S fanden immer unter idealen Labor-Bedingungen statt, d.h. das Netz, in dem die Tests durchgeführt wurden, stand ausschließlich für den Versuch zur Verfügung. Das hatte mit der Realität nicht viel zu tun, denn sollen Anwendungen wie Telemedizin oder autonomes Fahren wirklich verlässlich funktionieren, müssen die Latenzen auch dann niedrig gehalten werden, wenn im Netz starker Datenverkehr herrscht.
Umso erfreuter zeigt sich laut Tanja Richter, Netz-Chefin bei Vodafone Deutschland, dass mit dem Durchbruch von Nokia und Vodafone „Echtzeit-Kommunikation auch unter schwierigen Bedingungen in einem stark belasteten Netz technisch möglich ist“. Sie gehe sogar davon aus, dass L4S in einigen Jahren in deutschen FTTH-, TV-Kabel- und Mobilfunk-Infrastrukturen verwendbar sein werde.
Andere Experimente mit L4S
L4S ist eine Entwicklung der Nokia Bell Labs und kann über jede beliebige Zugangsverbindung zum Internet verwendet werden. Im November 2023 erbrachten Nokia Bell Labs und das auf Extended Reality (XR) spezialisierte Unternehmen Hololight bereits einen Machbarkeitsnachweis unter Labor-Bedingungen, bei dem L4S gleichzeitig mehrere XR-Nutzer über dieselbe drahtlose Verbindung ohne Leistungseinbußen unterstützen konnte.
Unter Extended Reality versteht man die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Diese Information kann alle menschlichen Sinnesmodalitäten ansprechen. Häufig wird jedoch unter Extended Reality aber auch nur die visuelle Darstellung von Informationen verstanden.
Doch auch abseits von Nokia gibt es vielversprechende Experimente mit L4S. Das Berliner Start-up Vay zeigte Anfang 2023 in Zusammenarbeit mit Ericsson bei einem Feldversuch über ein mobiles 5G-Netz, dass L4S die Signallaufzeiten auch bei Netzauslastung prinzipiell niedrig genug zum Fernsteuern von Autos halten kann. Konzerne wie Comcast, Nvidia, Apple und Google wollen deshalb ebenfalls verstärkt auf L4S setzen.