In Zeitlupe wird Irena von SS-Offizieren verprügelt, mit Schlagstöcken und Tritten. Dazu läuft jazzige Musik. Das Ganze passiert auf einer Bühne, normalerweise in Polen, jetzt aber auch in Berlin - einmalig, am Sonntag (5. Mai). Im Musical «Irena» geht es um die polnische Widerstandskämpferin Irena Sendler (1910-2008), die 2500 jüdische Kinder aus dem Warschauer Ghetto schmuggelte.
Sie versteckte die Kinder mit gefälschten Papieren bei Pflegefamilien, in Klöstern und Waisenhäusern. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem bestätigte sie als Gerechte unter den Völkern. Damit werden Menschen geehrt, die Jüdinnen und Juden während der NS-Zeit retteten.
Holocaust und Musical - geht das zusammen?
In «Irena» rückt eine polnische Widerstandskämpferin in den Fokus. Das Musical ist eine fast komplett chronologische Abfolge ihres Wirkens, mit Einschüben, in denen sie retrospektiv auf ihr Leben blickt.
Ein Leben, von dem viele Leute erfahren sollten. Gleichzeitig kann es mitunter befremdlich wirken, wenn eine Geschichte über den Holocaust mit Musical-Gesang untermalt wird. Einigermaßen seltsam wirkt es etwa, wenn ein polnischer Nazi-Kollaborateur einem unter falschen Namen lebenden jüdischen Kind in die Hose schaut, um es an die Nazis zu denunzieren - und dabei singt.
Wie jegliche künstlerischen Inszenierungen oder Verfilmungen des Holocausts kann das Werk nie den Grausamkeiten gerecht werden, die wirklich passiert sind.
Gerettete kommt zum Musical nach Berlin
Doch «Irena» kann auch als historisches Zeugnis verstanden werden, das im Musical-Format einer anderen Zielgruppe die Geschehnisse nahebringt. Eine der von Sendler Geretteten ist Elzbieta Ficowska. Als Baby wurde sie in einer Holzkiste aus dem Ghetto geschmuggelt und überlebte so den Holocaust. Ihre Eltern wurden ermordet. Heute lebt die 82-Jährige noch immer in Warschau - und reist für die erste und zunächst einzige Vorstellung des Musicals außerhalb Polens nach Berlin. Am Sonntag wird sie im Publikum des Admiralspalasts erwartet.
«Ich komme nach Berlin, weil ich es notwendig finde», sagte Ficowska im Gespräch der Deutschen Presse-Agentur. «Ich bin der lebende Beweis dafür, dass das, was auf der Bühne passiert, die historische Wahrheit ist und nicht irgendeine erfundene Geschichte.» Ficowska und Sendler haben sich im Lauf ihres Lebens noch oft getroffen. «Frau Sendler war nicht die ruhige Oma, für die sie viele Menschen hielten. Sie hatte eine sehr starke Persönlichkeit und verstand es, viel von sich und anderen Menschen zu verlangen.» Sendler habe ihr als Teenagerin geraten, zu studieren, statt an eine Berufsschule zu gehen. «So hat sie mich ein zweites Mal gerettet - ich habe Psychologie und Pädagogik studiert.» Irena Sendler ist 2008 im Alter von 98 Jahren gestorben.
Polen während des deutschen Nationalsozialismus
Für den Produzenten des Musicals und Direktor des Musiktheaters Poznan in Polen, Przemyslaw Kieliszewski, ist es außerdem wichtig, mit Projekten wie diesem die deutsch-polnischen Beziehungen zu fördern. «In den vergangenen 50 Jahren nach dem Krieg gab es zwischen Deutschen und Polen zu wenig Kontakt.» Man habe bestimmte Dinge nicht bearbeiten können - und dabei gehe es nicht um Politisches. «Es geht um Empathie und um Zuhören.» Mit Irena werde eine teils unbekannte, positive Geschichte erzählt.
Die Rolle der Polen in der Besatzungszeit war nicht immer eindeutig. Das sorgt bis heute für heftige Debatten in der polnischen Gesellschaft. Polen wurde 1939 von Nazi-Deutschland überfallen, bis 1945 war es unter deutscher Besatzung. Insgesamt drei Millionen polnische Juden wurden von den Nationalsozialisten ermordet. Die Besatzer verfügten die Todesstrafe für jeden Polen, der Juden half.
Trotzdem gab es viele Mutige, die genau das taten. Irena Sendler gehörte dazu. Aber auch das katholische Bauernehepaar Wiktoria und Jozef Ulma mit ihren sechs Kindern, die Juden bei sich aufnahmen. Die Ulmas wurden verraten, 1944 ermordeten die Nazis die gesamte Familie. In den Büchern renommierter Holocaustforscher finden sich Geschichten von mutigem Heldentum, aber auch schwer erträgliche Schilderungen von Antisemitismus, Denunziation und Verstrickung von Polen in NS-Verbrechen. Das kratzt heftig am Geschichtsmythos von den Rettern, den Polens Rechte gerne kultiviert.