Zu wenig Personal, zu viele Überstunden, zu schlechte Arbeitsbedingungen: Gut ein Fünftel der Krankenhausmediziner in Niedersachsen denkt einer neuen Umfrage zufolge darüber nach, den Beruf aufzugeben. Weitere 19 Prozent der Befragten schließen einen Berufswechsel nicht grundsätzlich aus, wie die am Dienstag vorgestellte Studie der Ärztegewerkschaft Marburger Bund ergab. «Das Gesundheitssystem muss grundlegend reformiert werden», forderte der Vorsitzende des Marburger Bundes Niedersachsen, Hans Martin Wollenberg.
Im Durchschnitt liege die Mehrbelastung bei 6,3 Stunden in der Woche, sagte Wollenberg. Das entspreche bei rund 17.200 Klinikärzten im Land über 2700 Vollzeitstellen, die die Krankenhausärzte über Mehrarbeit mit ausfüllten. Über ein Viertel der Befragten bekam für Überstunden weder Geld noch Freizeitausgleich. Fast ein Fünftel gab an, mehr als 60 Stunden in der Woche zu arbeiten, zwei Prozent arbeiteten demnach sogar mehr als 80 Stunden wöchentlich. «Für mich ist es ein frustrierender und zermürbender Zustand, wenn ich mich in meiner Arbeit als Ärztin zwischen meinem und dem Gesundheitszustand des Patienten entscheiden muss», wurde eine Medizinerin zitiert.
Denn es sei unmöglich, die Patienten mit mehr Zeit und Empathie zu versorgen, wurde ein anderer Mediziner in der Umfrage zitiert - der wegen «Stresses ohne Ende mit Papierkram» nicht länger ärztlich tätig sein will. Dazu kommt: 39 Prozent der Befragten in Niedersachsen erlebten laut Umfrage während der Corona-Pandemie einen Abbau ärztlicher Stellen, während es bundesweit 34 Prozent waren. Das habe die Lage verschärft, sagte Marburger-Bund-Vize Andreas Hammerschmidt.
67 Prozent der Befragten bemängeln der Umfrage zufolge die Arbeitsbedingungen, fast ein Drittel gab an, vom Arbeitgeber keine Möglichkeit der Zeiterfassung zu erhalten. Die Folge: «Die Kolleginnen und Kollegen machen ihre eigene Arbeitsmarktreform und reduzieren den Stellenumfang, um die Belastung noch irgendwie ertragen zu können», sagte Hammerschmidt. So arbeiteten inzwischen 31 Prozent der Befragten in Teilzeit - 2019 lag ihr Anteil bei 29 Prozent.
An der Studie beteiligten sich im vergangenen Mai und Juni rund 1300 angestellte Ärzte in Niedersachsen, 85 Prozent davon sind den Angaben zufolge Klinikärzte. Laut Marburger Bund handelt es sich um die größte Ärzteumfrage des Landes.
Ebenfalls ein großer Kritikpunkt: Der bürokratische Aufwand rund um die Patientendokumentation. Fast ein Drittel der Befragten verliere mit dem «Papierkram» täglich vier Stunden und mehr, sagte Hammerschmidt. «Ich bin Arzt geworden, weil ich Patienten heilen will», betonte er. Am Ende fehle diese Zeit am Patientenbett. Er resümierte, Appelle an die Politik hätten nichts bewegt: «Es ist leider das Gegenteil der Fall.»
Der Marburger Bund forderte angesichts der Ergebnisse dauerhaft mehr Personal in den Krankenhäusern, eine Begrenzung der Schicht-, Bereitschafts- und Rufdienste, eine angemessene Finanzierung der Versorgungsangebote, mehr Medizinstudienplätze, keine weitere Privatisierung von Krankenhäusern, die Abschaffung der Fallpauschalen und die Entlastung von Bürokratie. Außerdem sprach sich die Ärztegewerkschaft für einen Sonderfonds des Landes für die energetische Sanierung und den Neubau von Kliniken aus. Das Fondsvolumen sei noch nicht definiert, der Investitionsstau betrage allerdings mehrere Milliarden Euro, sagte Hammerschmidt.